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Arbeiten in Shanghai
S u. F. Demmer

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Der Umzug nach Shanghai als kritisches Lebensereignis

IV. Motivation - Ich will... , wenn ich nur wüsste was?

Wie schon im letzten Postillion angekündigt, geht es ab diesem Monat um die Themen Motivation, Erfolg, Zufriedenheit. Was kann ich tun, um (u.a. in Shanghai) zufrieden zu sein, mir Erfolge zu verschaffen.

Ganz abstrakt betrachtet ist Erfolg zu haben recht einfach: Ich suche mir ein angemessenes Ziel, ich plane dessen Umsetzung, ich verfolge den Plan mit ggf. notwendigen Korrekturen, ich erreiche das Ziel, was ich wiederum als Erfolg empfinde.

Ähnlich einfach sieht es theoretisch mit der Zufriedenheit aus: Ich achte einfach darauf, dass meine Bedürfnisse sich in meinem Leben angemessen wiederfinden, angemessen befriedigt werden. Um das zu erreichen bediene ich mich wieder der Grundschritte des Erfolges. Ganz einfach also. Wenn da nicht zwei ganz schwierige Fragen versteckt wären:

Was ist ein “angemessenes Ziel”?

Was sind “meine Bedürfnisse”?

Beginnen wir mit letzterem Problem, der Frage nach den Bedürfnissen. Bezüglich der Bedürfnisse bedienen wir uns der Überlegung eines Vertreters der sogenannten Humanistischen Psychologie:

Die “Humanisten” sind eine ab den 60er-Jahren in Erscheinung tretende, eher lose verbundene Gruppe von herausragenden EinzeldenkerInnen, die sich von den naturwissenschaftlich geprägten Denkweisen früherer Richtungen (die Tiefenpsychologie kam aus der Medizin, der Behavourismus aus der Biologie) abwandten und – vereinfachend gesagt - statt der vermeintlich ewigen und übergreifenden “Natur des Menschen”, eher den “Menschen in der Natur” suchten. Das Menschliche oder “Lebendige” sei so komplex, dass jeder vorrangig Gemeinsamkeiten suchende Ansatz in die Irre gehen müsse. Es gäbe zwar gemeinsame Züge unter den Menschen, diese seien jedoch im Einzelfall so speziell abgewandelt, dass ihre Kenntnis mehr abstrakten als praktischen Wert hat. Daher schaue man lieber gleich intensiv auf den Einzelnen. Dieser Ansatz hatte vor allen Dingen nachhaltigen Einfluss auf moderne therapeutische Ansätze. Ein berühmter Vertreter ist z.B. Carl Rogers mit seiner “Familienkonferenz”.

Für unser Thema interessanter sind die ebenfalls hohe Popularität erlangenden Arbeiten von Abraham Maslow: dessen “Bedürfnishierarchie” sowie die dazu gehörige Motivationstheorie.

Grob ist Maslows Ansatz so dar zu stellen: Motivation ist die Folge eines psychischen oder physischen Ungleichgewichts, dass man ausgleichen will.

Grundformen sind die “Mangelmotivation” und die “Wachstumsmotivation”. Eine “Mangelmotivation” liegt vor, wenn ein grundlegendes Bedürfnis nicht befriedigt ist: Der oder die Betroffene wird dementsprechend versuchen, durch Befriedigung dieses Bedürfnisses den Mangel auszugleichen, der Mangelausgleich ist die Motivation.

“Wachstumsmotivation” liegt dagegen vor, wenn ein Mensch sich aus einer für sich genommen sicheren Ausgangslage in eine Spannungssituation begibt, um sich ein neues Lebens- und Erlebensfeld zu erschließen.

Wo entstehen jedoch Mängel – und welche neuen Erfahrungsfelder gibt es? Um seiner Theorie eine klarere Struktur zu geben postulierte Maslow eine “Pyramide” von acht Bedürfnisstufen. Den Grundtenor kann man recht treffend mit Brechts: “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral” wiedergeben. Zuerst müssen diverse biologische Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen befriedigt sein. Dann versuchen viele Menschen ein gewisses Maß an existenzieller Sicherheit zu erreichen, womit dann auch die sozialen Bedürfnisse eng verbunden sind. Die Fähigkeit, die unteren Bedürfnisstufen angemessen abzusichern bestimmt in hohem Maße das Selbstvertrauen und auch den Selbstwert. Auf dieser Sicherheit aufbauend strebt der Mensch dann nach “Höherem”, Bildung, Selbstverwirklichung, Philosophie etc.. Eine Mangel in einer unteren Stufe blockiert eine Weiterentwicklung nach oben.

Mit dieser festen Rangfolge ganz bestimmter Bedürfnisformen verließ Maslow letztlich im engeren Sinne humanistische Denkweisen, versuchte schon wieder eine allgemeine Natur des Menschen zu bestimmen. Dementsprechend wurde Maslows Bedürfnispyramide zu Recht immer wieder kritisiert. Der Grundansatz, dass es Motivationen mit unterschiedlicher Wertigkeit gibt und Mängel an einer Stelle Weiterentwicklungen in anderen Bereichen blockieren können, ist jedoch weithin akzeptiert.

Was aber hilft diese Pyramide in Shanghai?

Sie hilft Probleme zu veranschaulichen und gibt zumindest erste Anregungen, durch Aktivität in welche Richtungen man sich “stabilisieren”, bzw. “verbessern” könnte.

Ein Beispiel: Für die wohl meisten erfolgt der Umzug nach Shanghai eindeutig aus einer Wachstumsmotivation heraus: Karriere, Erfahrungserweiterung.

“Wachstumsmotivationen” haben die Eigenschaft, dass sie “Mangelmotivationen” zeitweise “überstimmen” können. Aber eben nur zeitweise, auf Dauer ist die Mangelmotivation letztlich die stärkere (Menschen bei denen das nicht der Fall ist, haben ein hohes selbst- wie fremdgefährdendes Potential, da sie Gefahr laufen, über psychische und physische Belatungsgrenzen hinaus zu gehen).

In manchen Fällen erweisen sich leider die Auswirkungen des Umzugs auf die unteren – treffender wäre eigendlich “grundlegenden” – Bedürfnisebenen als so massiv, dass es letztlich zu keinem persönlichen Wachstum kommt, sondern vielmehr langsam aber sicher die persönlichen Reserven aufgezehrt werden – das Bankkonto ist dann das einzige, was noch wächst, besser als nichts.

Bin ich nur über einen kurzen, absehbaren Zeitraum in Shanghai, mag ich diese Entbehrung durchhalten, um dann daheim die Früchte auskosten zu können. Aber was ist, wenn das nicht der Fall ist, wenn mein Vertrag sehr langfristig ist, bzw. überhaupt unklar ist, wann wieder eine gesicherte Situation eintritt, wann eine Rückkehr möglich ist, wann die “Wachstumsperspektive”, die mich ursprünglich motivierte tatsächlich erfahrbar wird?

Wenn eine Wachstumsmotivation auf einer sehr langfristigen und noch dazu wenig zuverlässigen Perspektive aufbaut, dann mahnt Maslows Pyramide nachdrücklich zur Vorsicht. Dann muss ich umso sorgfältiger auf die grundlegenden Bedürfnisebenen achten:

Genügend und appetitliches Essen, genügend Schlaf, gesichertes familiäres Umfeld, befriedigende und anregende soziale Kontakte (dazu gehören für die Kinder auch Schule und Freizeitmöglichkeiten). Tue ich das nicht, dann laufe ich in hohem Maße Gefahr, die für das Wachstumsziel notwendigen Energien gar nicht aufbringen zu können.

Wichtig ist es dabei insbesondere, ehrlich bei den eigenen Maßstäben zu bleiben. Wenn ich in einem Bett nicht schlafen kann, dann hilft es mir nichts, dass es für chinesische Verhältnisse eigentlich ganz gut ist. Wenn ich die Baustelle nebenan sehr laut finde, dann hilft es mir nichts, dass sie für chinesische Verhältnisse eigentlich gar nicht sehr laut ist. Und wenn die Ehe kriselt, dann hilft es erst recht nichts, vorgehalten zu bekommen, dass andere Ehepaare in der gleichen Situation viel weniger Probleme hatten – einfach weil die Situation in Wirklichkeit nie die gleiche ist!

Die schwersten Ehekrisen entstehen, wenn die Partner sich nicht mehr trauen oder aus sonstigen Gründen nicht fähig sind, untereinander ihre wahren Bedürfnisse zu äußern. Dann entstehen mit der Zeit Nebenkriegsschauplätze, Ersatzkämpfe etc.. Hier muss man gerade Kindern gegenüber sehr aufpassen, die unter solcher “Nicht- oder Scheinkommunikation” massivst leiden.

Gelingt die Absicherung der unteren Bedürfnisebenen dagegen befriedigend, ist der rettende Hafen leider auch noch nicht erreicht. Dann lässt sich anhand Maslow eine postwendend neu entstehende Problematik aufzeigen, der sich insbesondere mitreisende Ehepartner ausgesetzt sehen.

Die neuen Fragen lauten: Was nun? Wo kann ich geistige Anregung finden, wo ästhetische. Wo kann ich mich verwirklichen, was gibt meinem Leben in Shanghai einen sinnvollen Rahmen?

Wenn sich in diese Richtung für die PartnerInnen nicht genügend tut, erweist sich die hohe Abgesichertheit, besser der Luxus des Expat-Lebens als ein wahrer Boomerang.

Wie bei der Bedürfnispyramide schon erwähnt hat der Selbstwert, das Selbstvertrauen etwas damit zu tun, in wieweit ich die Befriedigung meiner Grundbedürfnisse selbst steuern kann. Es ist schön eine Ayi zum Einkaufen schicken und mit dem Fahrer zum Coffeemorning fahren zu können – weniger schön ist dagegen, wenn ich realisieren muss, dass ich selber mit der Aufgabe alleine auf den Markt zu gehen, letztlich überfordert wäre, bzw. ich keinen Bus zum Hotel kenne. Weniger schön ist, wenn man merkt: Eigentlich bin ich von meinen Angestellten wesentlich abhängiger, als die von mir!

Dann wird die Situation kritisch: Was mach ich eigentlich hier? Wenn ich weg bin läuft doch alles genauso weiter! Meinen Mann sehe ich eh kaum und was der macht, wenn ich ihn nicht sehe, weiß ich auch nicht. Ich kann nichtmals alleine einkaufen. Bin ich eigentlich bescheuert?

Und so entsteht das Paradoxon, dass in Shanghai aus einer Situation gesicherten Wohlstandes oder vordergründig beruflichen Erfolges wirklich ernstzunehmende Krisen erwachsen können.

Maslows Ansatz ist in vieler Hinsicht ungelenk und vereinfachend, aber er mahnt nachdrücklich, sich in seinen Bedürfnissen ernst zu nehmen und sehr genau in sich zu horchen, welche man tatsächlich hat. Besonders schwierig ist dabei, dass es eben Bedürfnisse gibt, die den Interessen des nächsten Umfeldes widersprechen, was von manchen Menschen als unerträglich und ausweglos empfunden wird: Wir sind doch ein Paar, wir müssen doch gemeinsam (er)leben. Das ist der Punkt, an dem man sich dringend an Freunde oder eben an Beratungen wenden sollte, denn tatsächlich sind diese Situationen nicht ausweglos, aber sehr zehrend und schwierig.

Für Rückfragen stehe ich wie immer unter frdemmer@aol.com und (mit viel Glück) unter (0 21) 5988 0068 – oder auf dem Coffee-Morning zur Verfügung, wo ich als immer noch einziger Mann weiterhin einfach zu finden bin :-).

Im nächsten Postillion liegt der Schwerpunkt auf dem Erfolg, auf der Frage, welche Einstellungen und Handlungsansätze mir das Leben in Shanghai auf Dauer erleichtern können.

Vielen Dank für das Interesse und bis dahin eine gute Zeit

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Frieder Demmer: China-Beratung, Training, Coaching