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Arbeiten in Shanghai
S u. F. Demmer

Copyright for all contents by Sandra and Frieder Demmer. Jede Art der weiteren Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren.

Der Umzug nach Shanghai als kritisches Lebensereignis

II. Kognition/Attribution/Reframing

Lernen, sich und seine Umwelt angemessen wahr zu nehmen

Als allererstes möchte ich mich ganz herzlich für die unterschiedlichen Zuschriften, Anmerkungen und Gespräche nach dem ersten Artikel bedanken. Auch ganz im Sinne unseres Themas, denn auch ich bin nicht in China geboren und freue mich wie wohl jede/r hier über die Rückmeldungen, Anregungen und Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch - und hoffe dementsprechend wieder darauf.

Im ersten Artikel dieser kleinen Serie ging es um eine allgemeine Beschreibung der Eingewöhnung in eine vollkommen veränderte Umwelt. Die entscheidende Erkenntnis in der Beobachtung dieser Prozesse war, dass wir dabei mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit Krisen oder zumindest krisenähnliche Zustände erleben und dementsprechend bei deren Auftauchen zunächst Ruhe bewahren sollten – da muss man/frau durch.

In dieser Ausgabe soll nun etwas genauer beschrieben werden, was insbesondere das erste Tief im idealtypischen Eingewöhnungs-Modell ausmacht. Durch was muss ich da eigentlich durch?

Dafür gehen wir zunächst ein wenig zurück in die Geschichte der Psychologie. Im Verlauf des zweiten Drittels unseres Jahrhunderts zeigten die zwei ursprünglichen Hauptströmungen der wissenschaftlichen Psychologie deutliche Verschleißerscheinungen.

Die “Tiefenpsychologen” in der Nachfolge Freuds hatten ihre “Konflikt-Theorie” (grob: “Probleme gibt es, wenn ich unbedingt will, was ich glaube nicht zu dürfen”) zum Programm gemacht und probierten alles das aus, was Übervater Freud dereinst verboten hatte – mit “Tiefgang” in die unterschiedlichsten Richtungen... . 

Die “Klassischen Behaviouristen” in der Nachfolge Watsons bestand dagegen darauf, dass der Mensch überhaupt keinen Tiefgang habe und genauso zu erforschen sei wie Meerschweinchen oder Tennisschläger.

Das Abdriften verdienstvoller Ansätze in die Grenze der Absurdität war auf Dauer unerträglich und so legte (u.a.) schließlich der aus Berlin in die USA emigrierte Kurt Lewin mit ganzheitlicheren, sozialpsychologischen Überlegungen und Experimenten (“Gestaltpsychologie”) das Fundament für die Hauptströmung der 60er-80er Jahre, die “kognitivistischen Ansätze”. 

Kognitivistische Ansätze suchen die Lösung für die Besonderheiten menschlichen Erlebens in der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns, bzw. gesamten Nervensystems. Es wird davon ausgegangen, dass wir mittels unseres Gehirns in der Lage sind, sinnliche Reize in außerordentlich individueller Art und Weise erfahrungsabhängig mit unterschiedlichen “Bedeutungen” zu verknüpfen. Eine solche Verknüpfung wird als “Attribution”, teilweise auch “Attribuierung”, bezeichnet. Mit Attribution als sehr dynamischer Mischung aus physiologischer Reizaufnahme und erfahrungsabhängiger Interpretation gelang der so lange fehlende Brückenschlag von den platten Mechaniken der Behaviouristen zu den zwar häufig faszinierend lebensnahen, aber selten schlüssig zu Ende gedachten Trieb- und Instanzenmodellen der Tiefenpsychologen. Der kognitivistische Brückenschlag bereitete so den Boden für die teils hochkomplexen, übergreifenden Ansätze der Psychologie unserer Tage.

Wie sieht der Brückenschlag der “Attribution” nun aus? Ganz im Sinne biologistischer Reiz-Reaktions-Schemen empfinden wir z.B. gestreichelt werden meistens als angenehm, als Zuwendung von Wärme – aber eben nicht immer und schon gar nicht von jedem. Streicheln kann völlig andere Bedeutungen bekommen: Störung, Respektlosigkeit, Besitzanspruch, Zudringlichkeit oder gar Bedrohung. Ganz abhängig davon, wer sich uns wie und wann nähert, entscheiden wir (meistens unbewußt) sofort, warum er/sie das tut und danach richtet sich auch unser damit verbundenes Gefühl. Ein Ereignis – unterschiedlichste Interpretationen.

Im kommenden Postillion wird dies beim Thema “Bedürfnisse” auch noch einmal eine wichtige Rolle spielen.

Was hat das mit unserem Thema “Ankommen” zu tun?

Wir alle verbinden im Verlauf unseres Lebens unvorstellbare Informationsmengen zu sehr komplexen Attributionsmustern. Auf Grund solcher Muster macht es für uns einen so deutlichen Unterschied, ob ein großer junger Mann mit Glatze Sandalen, eine braune Kutte und einen Rosenkranz trägt oder eine Fliegerjacke, Springerstiefel und einen Baseballschläger. Attributionsmuster helfen uns, sehr viele Informationen in sehr kurzer Zeit ohne großes Überlegen (unter normalen Umständen) angemessen einordnen zu können. Alles Gewohnte/Bekannte wird über diese Muster ohne merklichen Aufwand verarbeitet und so entsteht Freiraum, um das Besondere auch besonders wahr zu nehmen und besonders reagieren zu können. Eine entscheidende Basis der besonderen Anpassungsfähigkeit des Menschen.

Was aber ist, wenn es plötzlich mehr Neues als Gewohntes gibt? Dann ist genau der Punkt erreicht, wo es “kritisch” wird. Dann sind wir im Thema. Denn Attributionsmuster sind stark verinnerlicht, wie verinnerlicht, wird Ihnen sehr eindrucksvoll am ersten Tag in einer Umgebung mit Linksverkehr (z.B. Hongkong) vor Augen geführt. Plötzlich müssen Sie  sich richtig konzentrieren, um sicher auch nur über die kleinste Straße zu kommen, weil entgegen Ihrer attribuierten Erwartung: “Vorsicht Straße, das erste Auto kommt von links.”, es tatsächlich von rechts kommt. Jede Straße, jeder Autofahrer wird plötzlich gefährlich. Shanghai hat zwar keinen Linksverkehr – aber seien wir ehrlich: der hier praktizierte Rechtsverkehr macht die Sache nicht entscheidend einfacher. Eine Alltäglichkeit wird so zur Belastung und eine Vielzahl genau vergleichbarer Anstrengungen rund um Alltagskram rauben Ihnen unmittelbar nach der Ankunft in einem fremden Land beträchtliche Mengen an Energie.

Beim Wechsel in einen anderen Kulturraum werden gewohnte Attributionsmuster gleichzeitig in sehr vielen Bereichen durcheinander gewirbelt: Sitten und Gebräuche, Essen, Kleidung, Wohnen, Fortbewegung – ALLES kommt in Bewegung.

So mögen Sie, frisch aus Deutschland kommend, in Shanghai einen Radfahrer auf sich zu kommen sehen und gelassen denken: “Soll er bremsen!”, um postwendend: “Astloch!” rufend, in irgend eine rettende Lücke zu hechten. Oder: Im Supermarkt will Sie ein freundlicher Herr ohne Vorzeigen des Kassen-Bon einfach nicht raus oder schlimmer noch, der Guard im Compound ohne Namecard nicht mehr reinlassen: “Wichtigtuer!”. Kleinigkeiten, die sich aber summieren. Ihr Weltbild mag die Vorstellung beinhaltet haben, dass man fremden Menschen ebenso wenig laut räuspernd vor die Füße, wie unerwünschte Essenreste einfach auf den Tisch spuckt – IHR PROBLEM! Noch offensichtlicher wird das Ausmaß des Einschnittes in das Verständnis Ihrer Umwelt bei den Themen Sprache und Schrift. Mit dem Umzug nach China gehen den meisten “Westlern” mit einem Schlag zwei der wichtigsten Informationswege fast komplett verloren: Sie können weder lesen, noch sich unkompliziert mit Menschen auf der Straße verständigen. Und das schränkt die Möglichkeiten zur reibungslosen Anpassung und Orientierung in einer 16-Millionen-Stadt wirklich sehr nachhaltig ein.

Kurz: Die Summe des Kleinkrams ist das vielleicht meistunterschätzte Problem in der Eingewöhnung. Das ganz alltägliche Leben wird zeitweise tatsächlich um ein vielfaches, wirklich um ein VIELFACHES anstrengender (und dadurch im Positiven wie im Negativen auch aufregender). Das trifft berufstätige wie mitreisende Partner übrigens in anderer Art und Weise, aber mit sehr vergleichbarer Härte. Kaum jemand will das vorher wahr haben, weil man ist ja so dynamisch und erfolgreich – aber meistens ist es dann doch genau so!

Die erste Eingewöhnungskrise (der Ausdruck “Kulturschock” scheint mir als Begriff eher passend, wenn man als Backpacker wirklich in medias res geworfen wird) wird dadurch ausgelöst, dass wir uns in fortlaufenden Bemühungen aufreiben, eine völlig veränderte Welt in ein über Jahrzehnte ge(ver)festigtes Weltbild einzuordnen. Erschwerend kann hinzukommen, dass die privaten Haltestäbe gewohnter Umgebung irgendwo im Container auf den sieben Weltmeeren irrfahren, bzw. der Zoll kurzfristig beschlossen hat eine Forschungsreihe zu starten, ob man Schmuggelwahre vielleicht durch Aushungern zur freiwilligen Aufgabe zwingen kann. Bösartigst überspitzt wähnen wir uns in den ersten Wochen umgeben von Unmengen wahnsinniger Autofahrer, taktloser Rüpel, blicken in Restaurants in denen spuckende Schlinghälse Hühnerfüße essen und auf der Arbeit können wir gar nicht so schnell schauen wie wechselseitig Gesichter verloren werden – wie gesagt: bösartigst überspitzt.

Nach einer gewissen Eingewöhnung sollten wir in der Lage sein, in den meisten der genannten Zeitgenossen und Situationen das zu erkennen, was sie in aller Regel sind: Alltag, ganz normale Mitmenschen, die grundsätzlich freundlich und weder mit der Absicht uns zu beleidigen noch zu erschrecken ihr Leben nach den hiesigen Regeln leben. Irgendwann werden wir z.B. die Chance haben, die Tücken chinesischer Felgenbremsen selber zu erfahren, akzeptieren den leidlichen Diebstahlschutz im Supermarkt und freuen uns, wenn nicht jeder jederzeit in den Compound marschieren kann. Man muss nicht alle Regeln übernehmen, alles irgendwann toll finden, aber man sollte möglichst viele Regeln kennen, um neue, angemessenere Bewertungsmuster aufbauen zu können!

Im Umfeld systemischer Ansätze wird die in diesem Stadium notwendige Neuorientierung sehr passend als “Reframing” bezeichnet: Man muss die eigenen Wahrnehmungen in einen neuen, passenderen Zusammenhang bringen, in einen neuen Rahmen einpassen. Der Spucker gehört nicht in unser Bild “Rüpel und andere unverschämte Patrone” sondern in das chinesische Bild “alltägliche Körperpflege” – so schwer das vorstellbar ist (ich persönlich gebe mich da keinen Illusionen hin: Ich werde “chuuuuaarg - pfk”  nie wirklich abkönnen, ABER: Ich empfinde es zumindest nicht mehr als persönlichen Angiff). Weil dieses gefragt wurde: Reframing ist auch ein wichtiger Ansatzpunkt bei Phobien, wobei dann der Vorgang etwas zäher sein kann.

Der Ansatz des “Reframing” macht auch deutlich, warum ein Auslandsumzug gerade für Jugendliche so kritisch sein kann: In einer Phase in der man eigentlich den Rahmen der einem bekannten Gesellschaft auslotet, sich seine Sichtweisen sucht, ausprobiert, wo in diesem Rahmen man eigentlich selber steht, wird genau dieser Rahmen entfernt. Wenn “wir Erwachsene” schon Probleme mit unserem Selbstverständnis bekommen – wie soll es da erst dem/der Jugendlichen gehen? Gleichzeitig, da Jugendliche eh auf der Suche sind, kann es aber sein, dass Jugendliche sich an viele Umstände sehr schnell gewöhnen und enorme Lernkurven zeigen, weit über den uns’rigen – KANN... .

Wichtigste Hilfe im üblichen Reframingprozess sind Menschen vor Ort, wenn möglich erfahrene, mit denen man einfach reden kann. Weiterhin hilfreich ist viel eigener Mut, so oft wie es nur irgendwie geht (und erträglich ist!) den Elfenbeinturm zu verlassen und sich ins Alltags-Gewühl zu stürzen. Jeder Tag “Urban Jungle” bringt wertvolle neue Erfahrungen. Der wechselseitige Austausch in allen Arten von Interessengemeinschaften wie Expat-Clubs, Sportclubs, Spielrunden oder Gemeinde kann weitere wertvolle Unterstützung bieten. Die Eindrücke vieler Augen und Ohren helfen Ihnen, wesentlich schneller angemessenere Bilder zur Erfassung Ihrer neuen Umgebung zu entwickeln: neue Attributionsmuster.

Professionelle Beratung würde ich bezüglich dieses Problems vor allem dann hinzuziehen, wenn Sie merken: “Irgendwie bringe ich meine Wahrnehmungen und die der anderen nicht gescheit zusammen – da passt was nicht, die sehen meine Probleme nicht, die verstehen mich nicht!”

Eines muss dabei klar sein: Reisen verändert. Sie werden in China definitiv nicht einfach leben können wie zuvor und manches wird bis zum Schluss befremdlich bleiben. Lassen Sie sich aber immer die Möglichkeit offen, dass die meisten Dinge die sie erleben nicht Angriffe auf Ihre Person sind, sondern wenn Sie hier – eben in diesem Rahmen – leben, aus irgend einem Grund einfach sinnvoll sind.

Als Vorgriff auf den April, wo es um die eigenen Bedürfniss gehen wird, sei aber auch gesagt: Wenn Sie irgendetwas letztlich wirklich gar nicht verstehen, nicht einordnen, nicht mehr mit anschauen können, dann reagieren Sie schlicht aus Ihrem ganz persönlichen Bauch heraus. Manchmal muss das einfach sein. Das erleichtert und kommt meistens am überzeugendsten. Ein Shanghai”veteran” sagte bezüglich eines persönlichen Ausbruchs zuletzt sehr passend: “Da habe ich sicher wieder tausend Gesichter verloren – aber als Europäer hatte ich eh von vorne herein keines... ;-).”

In diesem Sinne viel Mut, Spaß und viele interessante Entdeckungen. Für Rückfragen/Anregung/Kritik stehe ich unter der frdemmer@aol.com oder (0 21) 5988 0068 (ungleich schwieriger) wieder gerne zur Verfügung.(KONTAKTE NICHT MEHR AKTUELL!!)

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Frieder Demmer: China-Beratung, Training, Coaching