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S u. F. Demmer
Shanghai Tagebuch
April 2003

Nimen hao, liebe Freunde,

 nach langer Pause wieder ein Rundbrief. Vorweg: Eine ganze Reihe von Computerproblemen (sozusagen Computer-SARS... – ein echtes Gegenmittel gab’s nicht, aber er hat es letztlich überlebt... – nun ja... ) hat leider dazu geführt, dass wir die Versandliste komplett neu einrichten mussten. Adressen die erst im Jahr 2003 hinzu kamen, könnten dadurch verloren gegangen sein. Das ist sehr schade - solltet Ihr davon hören, dass jemand überraschender Weise  keinen Rundbrief mehr erhalten hat (was dieser selbst logischer Weise nicht wissen kann), dann wären wir über eine kurze Nachricht dankbar. Wir haben definitiv niemanden „gestrichen“ ;-).

 SARS

 Ja - SARS ist natürlich DAS Thema - mittlerweile, und das ist das Komische an der Geschichte, auch in China. Lange haben wir eher mit Kopfschütteln nach Europa geschaut. Die Situation vor so ca. zwei Wochen brachte die Vertrauensärztin des Konsulates wohl am besten auf den Punkt: Im „kleinen“, bestens medizinisch ausgestatteten Deutschland sterben jährlich 10.000 (!!) Menschen an Lungenentzündung. Im Milliarden - und dabei faktisch immer noch Entwicklungsland China gab es selbst mit Dunkelziffer zu diesem Zeitpunkt maximal einige hundert SARS-Todesfälle - und die Welt schreit auf als sei der Schwarze Tod neu erschienen.

 Ein wenig ist dieses Gefühl: „Worum geht es hier eigentlich?“, immer noch da. Niemand soll verniedlichen, dass hier ein neues, potentiell tödliches Virus aufgetaucht ist. Wenn wir aber hören, dass die Eltern von Freunden nach ihrer kürzlichen Rückkehr von einem Besuch in China (der keine der Krisenprovinzen auch nur berührte) beim heimischen Gottesdienst gebeten wurden, sich doch ins hintere Eck der Kirche zu begeben, dann liegt der Begriff der Hysterie doch nahe, und es wird wieder deutlich, wie wenig Vorstellung nach wie vor davon besteht, was China/Asien eigentlich ist. Über Wochen herrschte nach hiesigem Eindruck in Deutschland eine Stimmung und eine Informationspolitik, die so war, als würde man einen Italienurlauber in Quarantäne schicken, weil in Spanien - und auch nur eventuell - eine Grippewelle ausgebrochen sei... . Auch westliche Medien räumen mittlerweile ein, dass es sein könnte, dass die Panikreaktionen China letztlich teurer zu stehen kommen werden, als die Krankheit selber.

 Wie gesagt, es geht nicht darum zu verniedlichen. Wir beide waren zwischendurch erkältet und als es anfing im Hals zu kratzen, ging natürlich sofort das Räderwerk im Kopf los. Aber gerade weil das so ist, ist vieles, was da medial geboten wurde und immer noch wird, wenig hilfreich! Seit Wochen muss man sich im Stundentakt mir Nachrichten, Empfehlungen, Fragen und Dementi zum Thema SARS auseinandersetzen, von „gibt es gar nicht“ bis „250.000 Fälle in wenigen Monaten“, und das fing zuletzt an zu zehren. In dieser Situation fragt man sich, ob der chinesische Ansatz, eben nicht fortlaufend und alles zu veröffentlichen, nicht auch seine Berechtigung hat. 98% der Nachrichten, mit denen wir uns hier auseinandersetzen durften, hatten keinerlei Handlungsrelevanz: Ein Toter mehr, eine neue These über den möglichen Sprung des Virus vom Tier zum Menschen, Verdachtsfall hier, Verdachtsfall da, der dann aber doch wieder keiner war – und man selber weiß nicht mehr, wo man sich hin wenden soll. Noch einmal zum Vergleich: In den USA sterben jährlich über 60.000 Menschen an herkömmlicher Lungenentzündung – da kriegt man auch nicht laufend jeden neuen Fall per Radio, Fernsehen und Zeitung präsentiert... .

  

„Buddhas Meeres Himmel Land“ - oder „Ein Geschenk des Himmels“

 SARS begann irgendwann wirklich aufs Gemüt zu schlagen. Wir haben einen vergleichbaren, kaum greifbaren und doch immer größer und schließlich existentiell  werdenden Druck so noch nicht erlebt.

Unsere Antwort: Wir entschlossen uns für ein paar Tage auf die - mit einer mitten in Shanghai direkt am Bund startenden Nachtfähre zu erreichenden - buddhistische Kloster-Insel Putuo Shan zu fliehen - wo wir nun auch sind.

„Ein Geschenk des Himmels“ hat da mal wieder eine neue Bedeutung bekommen - nicht umsonst heißt Potuo Shan auch „Hai Tian Fo Guo“, „Buddhas Meeres Himmel Land“. Wir wandern unter strahlend blauem Himmel durch krach-frühlingsgrüne Hügellandschaften, die entweder in flachen, wunderbar gelben Sandstränden oder über rund geschliffenen Felsküsten ins Meer auslaufen. In die Hügel schmiegen sich allenthalben buddhistische Tempel und Klöster, teils arrangiert um gewaltige, Jahrhunderte alte Baumriesen - teils auch erst in der jüngsten Vergangenheit vollendet. Das Meer rund um diese Szenerie ist in einigen weiten ruhigen Buchten blau, ansonsten aber gelb! Auch das ist eine neue Erfahrung.

 So gut es uns hier geht, der Weg auf dieses Kleinod, dass wir jedem Chinareisenden als „Special“ wärmstens ans Herz legen, war wiederum der Weg in eine, durch eine und schließlich aus einer Urangst heraus: In China sind mittlerweile eine ganze Reihe an massiven Krisenregelungen zu SARS verabschiedet worden. Kamen die meisten SARS-Nachrichten zuvor aus dem Westen, wurde man seit einigen Tagen wirklich an jeder Ecke, in jedem Taxi, in jeder Zeitung und, und, und mit dem Thema konfrontiert. Zunehmend sah man Masken. Der Reiseverkehr ist radikal eingeschränkt worden und mit einem Mal fing man an zu glauben: Oh, vielleicht sollte man wirklich besser gar nicht mehr auf die Straße gehen - es ist doch zu gefährlich. Steter Tropfen höhlt den Stein, das war der Punkt wo der Druck wirklich ein existentielles Maß erreichte... . Faktisch liegt die Wahrscheinlichkeit einem SARS-Kranken in Shanghai oder auf einer Reise ansteckungsnah zu begegnen irgendwo im Bereich der Wahrscheinlichkeit, von einem Meteoriten getroffen zu werden - aber man bekommt den Gedanken einfach nicht mehr aus dem Kopf raus.

 Erst als wir, nach anderthalb, unter diesen Vorzeichen recht angespannten, Stunden in einer so schon tristen aber passender Weise zusätzlich zwischendurch vom Husten einer Passagierin widerhallenden Wartehalle endlich alleine in unserer eigenen und dabei erfreulich freundlichen Schiffskabine saßen, erst als wir den stolz strahlenden Bund und später den geschäftig erleuchteten Hafen hatten vorbei ziehen sehen, um schließlich in die mächtig dunkle Weite der Jangtze-Mündung, mit majestätisch vorbei ziehenden Hochseefrachtern einzubiegen, erst da wurde der Kopf allmählich freier.

 Der Form halber sei erwähnt: Allen Passagieren wurde natürlich Fieber gemessen!

 Dann, am Nachmittag am Strand, mit den Füßen im Wasser, der Sonne über uns, das war irgendwie wunderbar, der Beweis: Man kann noch leben in China, man kann sich noch bewegen. Endlich hatten wir den Abstand, den man braucht, um zu sehen, dass SARS eine gefährliche Krankheit ist, aber nach wie vor selbst In China eine sehr, sehr seltene. Wir wissen sehr wohl, dass für die ländlichen Gegenden demnächst ein größerer Ausbruch erwartet wird.

In diesem Sinne macht Euch keine Sorgen: Wir sind sehr aufmerksam und sehr vorsichtig mit dem Ganzen und wenn es sein muss – sofort daheim!

 

Once upon a time...

 Dieser Rundbrief überspannt aber eine Zeit von vielen Wochen. Zeit zurück zu gehen, als SARS nicht mehr war, als ein diffuses Gerücht über eine irgendwie besonders hässliche Grippe in Guangzhou.

 Es beginnt im März. Im Irak hat vor einer Woche der Krieg begonnen, aber unsere erste Wut über diesen Akt der Barbarei hat sich gerade wieder gelegt. So sind wir tatsächlich ein wenig träge und irgendwie ziemlich „satt und zufrieden“. Sandra schreibt:

 

„Endlich ist er da, der Frühling in Shanghai, und so wird es auch wieder höchste Zeit, etwas von uns hören zu lassen. Am letzten Sonntag wurde der Frühling hier offiziell eingeläutet, unabhängig vom kalendarischen Frühlingsbeginn einige Tage zuvor. Denn der Sonntag war der erste von fünf aufeinanderfolgenden Tagen, an denen die Durchschnittstemperatur über 10 Grad lag. So kann ich (Sandra) mich nun mit dem Notebook auf unsere Terrasse setzen, und genialer Weise noch nicht von Mücken geplagt, in aller Gemütlichkeit einige Zeilen schreiben.

 Heute ist schon der erste Tag, an dem auch SIE wieder da ist. SIE ist diese ganz eigene, intensiv-feuchte Wärme (wir zählen 28 Grad), die uns jetzt wohl bis in den späten Herbst begleiten wird und die ein wenig entschädigt für die Ungemütlichkeit des Shanghaier Winters Zumindest den, der es warm mag. Andere stöhnen - was auch bei uns früher oder später sicher wieder kommen wird, wenn es dann wieder auf die 40 Grad zu geht... .

 

Frühlingsfest - viel Rauch um ... das neue Jahr ;-)

 Das letzte große Ereignis hier war passender Weise das Frühlingsfest. Da die chinesischen Uhren nach wie vor vorrangig und tatsächlich nach dem Mond gehen, beginnt dieses Fest völlig losgelöst sowohl vom meteorologischen als auch vom europäisch-kalendarischen Frühlingsanfang, irgendwo rund um den 1. Februar, und zwar mit dem Neujahrsfest. Dann folgen zwei Fest-Wochen, die mit dem wunderbaren Laternenfest abgeschlossen werden.

 Chinesisch Neujahr selbst feierten wir mit zwei weiteren deutschen Familien bei Arnolds, Schulkollegen von Sandra. Dabei fiel auf, dass „unser“ Silvester doch recht spurlos an allen vorbei gegangen war, während jetzt echte Neujahrsstimmung aufkam:  Da bestimmt dann doch die Umgebung stärker das Empfinden als die Tradition oder Gewohnheit. Und die Umgebung gab ihr Bestes: ab den frühen Abendstunden wurden wir mit riesigen Feuerwerken und vor allem unglaublich vielen und unglaublich lauten Böllern auf den Jahreswechsel eingestimmt.

Einige von Euch werden die sogenannten „Ladykracher“ kennen, winzige Knaller, die in kleinen „Matten“ angeboten werden. Dann gibt es jene mindestens zigarrengroßen Knallkörper, die der durchschnittliche Knallfreund in Deutschland schon mit ein wenig Stolz unter dem Namen „Chinakracher“ präsentiert. Und das macht Sinn, denn in China fängt die ganze Knallerei genau mit diesen „Chinakrachern“ an, und deswegen werden sie auch - damit das Ganze nicht zu armselig klingt - wie bei uns die Ladykracher gleich einmal zu 100er-Matten verbunden.  Richtig zu leuchten beginnen des Chinesen Augen erst, wenn er meterlange Ketten aus dynamitstangengroßen Gebilden in die Hände bekommt. So etwas hinterlässt den durchschnittlichen Westler wiederum nach einem einzigen Durchlauf in kompletter geistiger Zerrüttung.

Das Spiel wird so lange betrieben, bis ganze Straßenzüge unter einer zentimeterdicken Auflage roter Papierfetzen versinken, durch die man am nächsten Morgen glas-äugige Langnasen kopfschüttelnd umherschauend zum Neujahresbrunch schlurfen sehen kann. Wir wohnen ja am Stadtrand und so kehrte bei uns ab etwa zwei Uhr nachts relative Ruhe ein. Freunde im Zentrum taten die ganze Nacht kein Auge zu.“

 

Geld, Geld, Geld

 „Da klinke ich - Frieder - mich kurz ein, denn das gerade Beschriebene war nur die erste Etappe: Um den Geldgott gütig zu stimmen, wird am fünften Tag des Frühlingsfestes noch einmal alles verpulverisiert, was greifbar und entbehrlich ist. Da ergriff Sandra vorher lieber die Flucht mittels eines Kurztripps nach Deutschland, während ich abends ein wirklich beeindruckendes Schauspiel bestaunen durfte: Hunderte von Feuerwerks-Raketen bis in die tiefe Nacht hinein, meistens in Größen wie wir sie nur von offiziellen Feuerwerken kennen. Stundenlanger Donner im Sekundentakt. Auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen Seite: so nach einer Stunde sehen alle Raketen gleich aus... . Jetzt bin ich aber schon wieder ruhig und Sandra erzählt weiter.“

 

Einmal Deutschland und zurück

 „Ok: Meine knapp zwei Wochen in Deutschland waren zwar kurz, aber doch genügend Zeit, um den Winter in vollen Zügen zu genießen und wenigstens ein bisschen Zeit mit Familie und einigen Freunden zu haben. Den letzten Akt des Frühlingsfestes in China wollte ich mir dann doch wieder nicht nehmen lassen: Frisch zurück in Shanghai gab es das Laternenfest - optisch der festliche Höhepunkt des Jahres und der Shanghaier-Laternen-Himmel ist Jahr für Jahr der Bazar rund um den Yu-Garden (s. Homepage). Aber selbst unser Compound ließ es sich nicht nehmen, alle Sträßchen mit hunderten von großen, roten Laternen zu schmücken - schon schön.

 

Business as usual...

 Frieder hatte wie erwähnt hier die Stellung gehalten und fleißig an seinem Projekt weitergearbeitet. Der Persönlichkeitstest, der mittlerweile auf den Namen „Five Traits Inventory“, FiT In™ hört, ist in seiner letzten Vortestphase, bringt erfreulich gute Ergebnisse. Testende Manager zeigten sich laut Frieder durchweg beeindruckt, und zumindest von einem, den ich auch kenne, kann ich das nachdrücklich bestätigen: Scheint ein echtes Werk zu sein, was in diesen langen Monaten entstanden ist, freut mich sehr für ihn). Und so soll es im Mai dann endlich in den Verkauf gehen. Eine sehr spannende Zeit! Wie auch immer es geschäftlich enden wird, die Lerneffekte für Frieder alleine sind jetzt schon gewaltig, sprachlich (Business-English, Fachenglisch Psychologie) wie fachlich (Start-Up-Erfahrung im Ausland, Management des chinesischen Entwicklungsteams, Kooperation mit Chinesischen Firmen, Auffrischung von Testtheorie und Statistik etc.).

 

Bei mir nimmt die Arbeit in der Schule einerseits ihren gewohnten Gang. Andererseits ist auch viel in Bewegung. Waren es zu Beginn des Schuljahres nur 11 Kinder in meiner Klasse, sind es bald 19, was natürlich immer noch eine sehr angenehme Größe ist, aber auch Unruhe und immer wieder neue pädagogische Herausforderungen mit sich bringt: Der Wechsel an sich, die fortlaufende Neustrukturierung der Klasse innerhalb weniger Monate ist eine Situation, die es so in Deutschland nicht gibt.

Hinzu kommt, dass unsere Schule insgesamt aus allen Nähten platzt und die Klassenzimmer immer enger werden. Der Schulneubau ist in Planung. Nach vielem Hin und Her gibt es jetzt endlich ein neues Grundstück, mit dem klitzekleinen Haken, dass es an drei Seiten von Friedhöfen umgeben ist – ein herbeigerufener Feng-Shui Meister fand die Ausrichtung fein, zwei Friedhöfe schienen ihn auch nicht wirklich zu stören – beim Dritten sei er dann merklich ruhiger geworden... . Der Neubau wird so oder so erst in zwei Jahren fertig sein. Bis dahin wird man sich noch mit Containern und anderen Provisorien behelfen müssen.

 Anfang März gab es einen arbeitstechnischen Höhepunkt: Deutsch-Fortbildung in Seoul. Wie gesagt, es war eine Fortbildung, dennoch blieb etwas Zeit, die Stadt kennenzulernen. Am beeindruckendsten war, besonders angesichts der aktuellen politischen Situation, die Fahrt zur nordkoreanischen Grenze, nicht ohne ein etwas mulmiges Gefühl. Es herrscht strenge Kleiderordnung, um den Nordkoreanern kein Propagandamaterial über den „verrucht-verlotterten“ Rest der Welt zu liefern. Eine Unterschrift, dass man sich in eine „Zone von Gefahr und Tod“ begibt und diesbezüglich vom Veranstalter keine Haftung übernommen wird, „Rock soldiers“, die, nur wenige Meter von uns entfernt, mit angewinkelten Armen in Hab-Acht-Stellung versteinert jederzeit schussbereit der Dinge harren, die da kommen - gemütlich ist anders. Dazu die Erzählungen des Militärattaches der Deutschen Botschaft in Seoul vom Vortag, dass sich auf einer Strecke von 240 km hier ständig eine Million Soldaten gegenüber liegen und sämtliche Bergzüge, die wir sehen können, dicht mit Artillerie besetzt sind, alle nördlichen Waffen sind dabei auf Seoul gerichtet, das gerade mal 3 Flugminuten entfernt ist. Die 10 Millionenstadt ist nach seinen Aussagen das „Faustpfand“: hoffnungslos exponiert, kaum zu schützen - was hoffen lässt, dass hier letztlich immer eine diplomatische Lösung gefunden wird. Kein Land hätte nach seinen Aussagen daher derzeit ein Interesse, Nordkorea anzugreifen. Nur bei einem Land wäre man sich leider nicht ganz sicher - mal wieder... .“

 

Der Golfkrieg aus chinesischer Sicht

 Drei Wochen und fast einen ganzen Krieg später war nun Frieder es wieder, der auf der Terrasse saß. Dank doch noch einiger eher kühler Tage gab es nach wie vor keine Mückenattacken (der 28-Grad Tag sieben Abschnitte weiter oben endete in einem wahrhaft rauschenden Gewitter...).

 

 Liebe Freunde,

 

die Stimmung hat sich deutlich verändert. Der Verlauf des Krieges hat uns in eine Art verzweifelten Unglauben darüber gesetzt, welches Maß an Ignoranz in diesem beginnenden 21. Jahrhundert doch leider noch möglich ist, mit welcher Gleichmut für - wie es jetzt ja leider immer deutlicher wird - wirtschaftliche Interessen mühsam erarbeitete Besitzstände zivilisierten Umgangs aufgegeben werden.

 Natürlich, wir wissen, es geht um die Menschen, nicht um Öl, was man schon daran deutlich erkennt, dass die Alliierten KEIN Konzept hatten, um mit der grassierenden Anarchie in den Straßen der Städte umzugehen, eine millionenteure Spezialfirma zur Löschung der Ölbrände jedoch sofort einsatzbereit war – auch dass der ehemalige Vorstand dieser Firma Dick Cheney heißt ist nicht etwa irgendwie von Belang - zutiefst deprimierend das.

 Während die offizielle Position Chinas hierzu erfreulich klar ist, trifft man z.B. bei Taxifahrern doch immer wieder auf eine unverhohlene Bewunderung für die Kaltschnäuzigkeit  Bush’s: „Der kann sich’s leisten zu machen was er will.“ Starke Männer kommen hier an - was einen zu der besorgniserregenden Vorstellung führt, was wohl passieren würde, wenn Chinas aktuelle Strukturen zusammen brächen - wer dann wohl alles die Gelegenheit nutzen würde, um zu machen, was er immer schon wollte... .

 Ansonsten war man über Wochen hinweg einfach froh, auf die an muslimischen Straßengrills stereotyp gestellte Frage, ob man denn meiguo ren - Amerikaner sei, lächelnd mit: „Nein – bu shi.“ antworten zu können.

 Mitgekriegt haben wir viel. Das internationale chinesische Fernsehen berichtete fast ununterbrochen, alle Pressekonferenzen wurden live übertragen, was nicht uninteressant war. Jede Nachrichtensendung endete mit einem Stimmung machenden aktuellen Bilderbogen: Es begann mit den offiziellen Bildern militärischen Erfolges zu getragener Musik,  um dann zu den Bildern der Opfer und Zerstörungen oder zu Friedensdemonstrationen zu wechseln - wie gesagt, die offizielle Position ist klar.

 

Zeit der Entscheidung

 Was vielleicht noch nicht alle wissen: Allen erwähnten Unbilden zum Trotz hat Sandra ihren Vertrag nun um ein Jahr verlängert, also bis Sommer 2004. Bis dahin hoffen wir, dass auch Frieders Firma/Tätigkeit eine für die Rückkehr noch direkter verwertbare Form angenommen hat. Außerdem wäre uns einfach eine Rückkehr zu früh gewesen - eigentlich sind wir ja jetzt erst richtig da. Das wurde uns auch auf Putuoshan noch einmal richtig klar, als wir abends in einem der einfachen Hafenlokale saßen und uns auf einfachen Metallstühlen, an folienbespannten, leicht wackligen Tischen, mit teils angegrautem Porzellan und leidlicher Tischdekoration richtig heimelig fühlten – wie zu Hause vielleicht in einer altbekannten Bar. War ein schöner Moment, der wieder klar machte, wie relativ vieles im Leben ist. 2004 ist aber dann aller Voraussicht nach wirklich Schluss: Sandras Beurlaubung wird wohl nicht mehr verlängert.

 

So, zum einen gemütlich eingelebt, zum anderen aber dann doch nach wie vor fortlaufend in neue Herausforderungen des Alltags eingebunden, haben wir vor kurzem festgestellt, dass wir unser „Bergfest“ hier verpasst haben: Ja, mit der Rückkehr 2004 sind wir seit Februar schon im Countdown. Aber es wird sich sicher eine Gelegenheit finden, die Feier dieses Punktes nachzuholen - schon jetzt mit lachendem, wie auch weinendem Auge - was uns lachender Weise zum Frühling zurück führt:

 

Und nochmals Frühling!!

 Es blüht und blüht überall, dass es eine helle Freude ist. Vor allem sieht man allenthalben Shanghais Stadtblume, die Magnolie (siehe Homepage), in prachtvoller weiß-rosa Blüte, aber Gärten und Parks verwöhnen einen mit wirklich allen Arten an Sträuchern und Blumen, und auf dem Land leuchten die Rapsfelder. Bei einem Spaziergang ist Frieder zudem einem Wiedehopf begegnet.

 Zum chinesischen Ahnenfest wird die natürliche Pracht an den Straßen um Millionen von Schnittblumen an Straßenständen ergänzt, die hier für die Ahnenehrung angeboten werden. In diesem bunten Rahmen werden Gebete gesprochen und Papiergeld, -häuser und Goldpapierbarren zur Versorgung der Verwandten im Jenseits verbrannt oder einfach mit der Familie spazieren gegangen. Ein Totenfest in der lebensvollsten Zeit – einen Aspekt den unser Ostern ja auch hat.

 Und noch etwas neben dem Frühling führt zum Beginn dieses Briefes zurück: Es wird auch wieder geknallt. In ein paar hundert Metern Entfernung nähert sich der vierte Bauabschnitt unseres Compounds dem Ende. Nach chinesischer Sitte wird auch ein Richtfest mit hunderten ohrenbetäubenden Krachern begangen - und es geht um ziemlich genau einhundert Häuser... .

 Und so geht das Leben weiter letztlich seinen gewohnten Gang ;-) , schleicht sich dann doch auch der erste Mückenspähtrupp an – Zeit sich zurück zu ziehen.

 Ganz liebe Grüße

 

Zaijian

 

Eure Sandra und Frieder

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Frieder Demmer: China-Beratung, Training, Coaching