Liebe Freunde,
eine sehr erlebnisreiche Zeit liegt hinter uns. Daher gibt es - aus einem tage-, teils stundenweise zwischen 25 Grad Jubelwetter und nasskalter
Herbsttristesse schwankenden Shanghai - einen sehr umfangreichen, zweiteiligen Rundbrief.
Vorweg: Es geht uns sehr gut. Eingelebt, notdürftig sprachlich orientiert, mit einem halbwegs stabilen Kreis an Kontakten sowie regelmäßigen
Aktivitäten beginnt so etwas wie ein Heimatgefühl zu entstehen – bei mir mehr als bei Sandra, zum einen weil ich einfach wesentlich mehr Zeit zum Einleben im engeren Sinne hatte, zum anderen weil das Konzept
„Stadt“ als Heimat mir doch nach wie vor näher liegt als ihr. Doch auch Sandra findet mehr und mehr Spaß an den „Big City Lights“ und der lebhaften Vielfalt dieser Stadt.
Das herausragende Ereignis der letzten Wochen ging dann aber doch außerhalb über die Bühne, war sicher und mit großem Abstand unser sechstägiger
Abstecher in die Äußere Mongolei. Eine Reise, die nicht nur schön war, sie war anrührend, bewegend. Dazu findet sich mehr in dem zweiten Dokument.
Peking – Berge, Mauer und unsere erste Zugfahrt
Dem großen Ereignis direkt voraus ging ein Trip nach Peking zu einem Drachenbootrennen. Nach unserem etwas durchwachsenen ersten Aufenthalt in Chinas Hauptstadt waren wir schon ein wenig gespannt, wie es uns dieses Mal im Zentrum der Macht ergehen würde. Tatsächlich sahen wir von Peking selber nicht all zu viel, da das
Rennen gut zwei Stunden Fahrtzeit auĂźerhalb der Stadt ausgetragen wurde.
DafĂĽr fanden wir uns schwuppdiwupp vollkommen dem 40km-Stadt-Giganten entronnen und eindrucksvoll umgeben von Pekings Bergen. Sandra musste angesichts
dieser grünen, teilweise verwegenen Landschaften ein wenig leiden – solche Ausblicke bieten sich im flachen Schwemmland des Yangzi-Deltas rund um Shanghai einfach nicht.
Das Rennen selber war eher chaotisch und wenig begeisternd und Sandra musste zudem wegen einer schweren Erkältung passen – man kann nicht alles haben.
Abends begab Frieder sich dann doch noch mit den Freunden vom Peking-Team ins Pekinger Nachtleben, das u.a. unerwarteter Weise zwei
urig-schrill-bunt-lebhafte Kneipen- und Discogassen, ganz im Stile deutscher Studentenstädte zu bieten hatte, wirklich nett – und dann doch wieder eine Razzia in einer Seitenstraße, was dann leider selbst bei
dieser kurzen Stippvisite das andere Peking in Erinnerung rief. In diesem Fall ging es um das durchaus ehrenwerte wenn auch verwegene Ansinnen die Stadt bis 2008 drogenfrei zu bekommen... .
Das mit Sandras Passen galt trotz der Ruhepause leider auch noch für den nächsten Tag, an dem große Teile der Mannschaft noch zu einer 12
Kilometer-Wanderung auf der GroĂźen Mauer bei Simitai aufbrachen.
Bisher waren wir der Meinung: GroĂźe Mauer? MĂĽssen wir uns eine groĂźe Mauer anschauen?
Nach Stunden ungebrochen begeisterter Wanderung in strahlendem Sonnenschein ĂĽber endlose Berge und HĂĽgel, ĂĽber die sich ebenso endlos wie verwegen dieses
unwirkliche Bauwerk schlängelt, ist festzuhalten: Man muss! Die „Große Mauer“ ist nicht vorrangig „Mauer“, das Wort wird dem Gebotenen nicht gerecht. Sie ist eine titanisch anmutende Riesen-Burg, ein
Symbol der Macht und gleichzeitig der Ohnmacht, denn sie ist Mahnmal der unmenschlichen Anstrengungen eines Volkes getrieben von einer verzweifelten Angst. Die Angst vor der Stärke und Grausamkeit riesiger aus dem
Nichts hereinbrechender Reiterheere aus einem Land, das man Jahrtausende lang fĂĽr ein unbequemes aber letztlich bedeutungsloses Randgebiet chinesischer Zivilisation gehalten hatte, unser Reiseziel: die Mongolei.
Beinahe wäre genau wegen der Mauer unsere Reise jedoch gescheitert. Weniger weil wir ganz im Sinne des Erfinders nicht über die Mauer gekommen wären,
als vielmehr nicht schnell genug runter: die Entfernungen auf der Mauer sowie innerhalb Pekings schlicht unterschätzend hätten wir um ein Haar den Zug nach Hohhot in die Zwischenstation Innere Mongolei
(=chinescher Teil der Mongolei) verpasst... .
„Zug“ ist aber dann gleich das nächste Stichwort: 10 Stunden „Hardsleeper“ hatten wir vor uns und 10 Stunden „Hardsleeper“ in China hört
sich zunächst ein wenig beunruhigend an. Dementsprechend unruhig waren wir dann auch, als wir in der Wartehalle der in olympischen Dimensionen und spektakulärem Neo-Qing-Style neu errichteten West-Station Pekings
eintrafen. Frieder erstand noch schnell (vom Rest der insgesamt siebenköpfigen Crew milde belächelt) eine vorgekocht eingeschweißte „Peking Ente“: „Wer weiß was uns erwartet – Ihr werdet es sehen.“ Gut
- letztlich begleitete uns der delikate Wasservogel die ganze Reise hindurch, um dann aber doch noch zum mit groĂźer Begeisterung aufgenommenen Abschiedsgeschenk an unsere Mongolischen Gastgeber zu werden :-).
Wir waren aber bei unserer Zug-Unruhe. Diese verflog sogleich, als wir den Zug bestiegen: Nagelneue, extrem gut gedämpfte Wagen mit bequemen Liegen und
sauberen Kissen und Bezügen, stündlicher Snackservice, in jedem Wagen ein Heißwasserautomat für die so beliebten Instantsuppen – für nicht einmal 30 Euro ein sehr fairer Deal, dessen Existenz wir zukünftig
immer prüfen werden – so gibt es z.B. eine ebenso neue, schicke Nachtzugverbindung Shanghai-Peking! In dieser Form war der Zug ein letztes tiefes Durchatmen vor dem großen Abenteuer – das wir hier aber
auslassen.
Danach
Die Mongolei hielt uns noch eine ganze Weile nach unserer RĂĽckkehr innerlich gefangen. Aber gleichzeitig rief die Arbeit. Die Schule wird zwar immer
mehr Routine, aber es bleibt der deutlich höhere Arbeitslevel, die Vielzahl an Zusatzaufgaben, die dann doch immer wieder auch anstrengend sein können.
Frieder ist in seinem Projekt „HRObjective“, einer Personalentwicklungs- und Consultingfirma immer mehr gefordert – wenn es auch zwischendurch noch entspannende Auszeiten gibt. Noch geht es weniger um
Kunden als darum, das Profil der Firma in einer Weise auszuarbeiten, dass sie auch in Shanghai konkurrenzfähig wird und bleibt. Trotzdem heißt es kräftig auf Holz klopfen, da alles in einem Zustand ist, in dem
eine große Firma bei entsprechendem Investment HRO kurzfristig überholen könnte. Scheint aktuell aber nicht der Fall zu sein.
Ningbo – im Zeichen des Drachen
Als wir gerade meinten wieder so richtig in Shanghai zu sein, gab es Knall auf Fall eine neue Einladung zu einem Drachenbootrennen – diesmal in
Ningbo, eine 5,6 Millionen Stadt, sechs Busstunden sĂĽdlich von Shanghai.
Rein sportlich betrachtet, war die Veranstaltung weit ĂĽber Peking anzusiedeln, aber nicht so hochklassig wie die Drachenbootshow von Jiaxing, wo
wir Boote mit 20 Paddlern in absoluter Uhrwerkpräzision mit über 100 Schlägen pro Minute gischtsprühend über die Strecke rauschen sahen.
DafĂĽr war in Ningbo das Arrangement bisher das stimmungsvollste:
Ăśberall strahlend rot-gelb wehende Fahnen und bunte Ballone. Traditionell schwere, ewig lange Teakholzboote, bei denen es schon beeindruckend war, sie vor
dem Start in ruhigem Rhythmus hinaus auf den See gleiten zu sehen, bzw. selbst hinaus zu gleiten.
Auf einer schwimmenden Bühne wurden fortlaufend Tänze aller Art geboten.
Alles hatte etwas sehr Feierliches: die Aufstellung der Mannschaften bevor wir zu den Booten gefĂĽhrt wurden erfolgte im Innenhof eines alten Tempels
und die chinesischen Teams ließen sich – man staune - nicht nehmen dabei in kurzen gemeinsamen Verbeugungen zum Altar um Glück zu bitten.
Neben den üblichen Trommeln führten die Boote diesmal einen kleinen, peitschend klingenden Gong mit. Der beste der Gongschläger stand frei – ohne
irgendeinen Halt - auf einer der nur zwanzig Zentimeter Fläche bietenden Sitzbänke in der Mitte seines Bootes und peitschte wild „headbangend“ seine später siegreichen Kameraden voran. Dieses Team
war zum einen auĂźerordentlich kraftvoll, zum anderen eben absolut gefangen im oder sollte man sagen getragen vom Rhythmus seiner abhebenden Headbanger an Trommel und Gong, eine wirklich mitreiĂźende Show, eine
geschlossene Einheit, ein mächtiger, bebender Drachen – da war für uns mal wieder mal eine Runde schlichtes Staunen angesagt.
Die Krönung war aber der enge, trotz Regen mit Tausenden jubelnd gut gelaunten Chinesen dicht gefüllte Zielbereich. Selbst als wir dann diesmal doch
leider als letzte in diesen „Hafen“ einliefen - die Ränge Richtung Steg zu queren, hieß eine minutenlange Mischung aus Winken, Lachen und Gänsehaut – wow... .
Ob wir gut oder nur witzig genug waren sei dahingestellt, es gab sofort eine neue Einladung, diesmal in den hohen Norden: Drachenbootrennen im Januar
bei minus 20 Grad – das klingt sehr schräg, sehr aufregend, soll ins Guiness-Buch der Rekorde und so wie es aussieht werden wir tatsächlich zusammen mit der internationalen Mannschaft aus Peking ein volles Team
stellen können.
Shanghai – Business as usual
Wenn wir das so schreiben, dann heißt das, wie schon angedeutet, keines Falls, dass wir hier allmählich in die Untiefen alltäglicher Langeweile
abgleiten – nein, es ist nach wie vor so, dass uns Shanghai in all seiner Vielfalt, chaotischen Ungeschliffenheit und dann wieder flirrenden Weltstädtischkeit munter auf Trab hält.
Mondfest – Osmanthus und Miss Moon
Im Oktober wurden wir zum zweiten Mal Zeuge des chinesischen Mondfestes. Letztes Jahr erlebten wir uns dabei überwältigt vom Massentrubel auf der
neonflirrenden Nanjing Lu Shanghais. Dieses Jahr hatte einer der Drachenbootler die Idee und dann auch die Möglichkeit uns aus Anlass des Festes in ein edles Offiziellen-Hotel am riesigen Taihu zu bringen.
Das Mondfest, das auf die Woche der größten Annäherung des Mondes an die Erde fällt, ist neben dem Frühlingsfest Chinas wichtigstes Fest und wird
begleitet von der massenweisen Herstellung runder, weich gefüllter Gebäcke, Mondkuchen, yuebing, genannt. Die gibt es in allen Abstufungen von widerlich bis deliziös und sind zum einen uralte Wohlstandssymbole,
zum anderen ernteten sie zusätzlichen symbolischen Ruhm, als gar nicht dumme Widerständler die traditionsgemäß absolut unverdächtig an wirklich jeden zu verschenkenden Gebäcke in der Zeit der
Mongolenherrschaft erfolgreich zur Nachrichtenverbreitung und damit schlieĂźlich zum Sturz der Yuan-Dynastie einsetzten.
Begleitet wird das Fest passender Weise von der Blüte des Osmanthus, einem unscheinbaren Bäumchen mit weißen Blüten, die einen
überwältigenden, fruchtig süßen Duft verbreiten. Idealer Weise spaziert man zum Fest im silbernen Licht des besonders groß und voll scheinenden Mondes mit Familie oder sonstig geliebten Personen kuchentauschend
durch einen mit Osmanthus durchsetzten Park oder picknickt auf einer Wiese dort.
Dieses Bild vor Augen schien uns ein Barbecue am Seeufer durchaus eine ebenso authentische wie reizvolle Variante das Fest zu begehen.
Im Hotel gab es aber zunächst erst einmal die „Presidential Suite“ zu bestaunen. Ein auf einer Anhöhe gelegner, rechteckig glatter
Hochsicherheitstrakt, bei dem man hinter Panzerglas Balkone erahnen konnte: Vollkommen unromantisch und zudem nur für 45.000 RMB zu haben – so konnten wir uns beherrschen!
Der Ausblick von unseren Zimmern auf einen historischen Garten mit eindrucksvoll davor ankernder Dschunke war dann schon wesentlich näher an unseren
Vorstellungen.
Im weiteren Tagesverlauf besuchten wir zwei Inseln im See – mit kleinen Motorboot-Taxis ein echter Spaß. Da waren dann endlich auch berauschend duftende
Osmanthusgärten und in einem kleinen, einfachen Restaurant gab es ein günstiges Mahl aber nur mit dem Besten frisch aus dem See. Dazu gehören um diese Zeit natürlich auch frische Taihu-„panxie“, die hier so
heißgeliebten handgroßen Süßwasserkrebse. Mir schmecken sie jedem Ma(h)l besser – unverändert bleibt, dass ein chinesisches Krabbenessen angemessen nur mit dem englischen Ausdruck „mess“ zu bezeichnen
ist. Es ist absolut unmöglich dieses Ereignis mit irgendwas zu bestreiten, was auch nur von Ferne an Würde oder Stil erinnert. Nach kurzer Zeit finden sich alle Beteiligten mit gleichermaßen verschmierten Händen
und MĂĽndern umgeben von geborstenen, mehr oder minder sauber ausgezuzelten Schalentierresten. Der erstmalige Genuss der nur mit elaborierten Techniken frei zu legenden Kerndelikatesse, dem eigelbfarbigen
Krebsinneren, fordert zudem einen Akt der Überwindung, der absolut vergleichbar mit Austern oder ähnlichem ist – der aber eben auch in diesem Fall belohnt wird.
Abends winkte dann das Barbecue am Seeufer, das der perfekte Abschluss gewesen wäre – wenn nicht ein höllenlautes Bühnenprogramm inklusive einer
Verlosung, die uns zu glücklichen Besitzern einer Packung Feuchtigkeitscreme werden ließ (die wir unser hocherfreuten Busfahrerin vermachten), sowie einer nach unverständlichen Regeln ablaufenden Wahl der Miss
Moon, verbale Kommunikation stundenweise verhindert hätte. Obwohl wir die allerletzten waren, die am Schluss übrig blieben, wissen wir bis heute übrigens nicht, wer nun eigentlich Miss Moon geworden ist.
Am nächsten Tag gab es nach üppigem Frühstück für alle noch zwei echte Höhepunkte. Sandra genoss mit einem Teil der Gruppe eine ebenso schöne wie
vogelwilde Querfeldeinwanderung durch die HĂĽgel am Seeufer und Frieder besuchte mit den anderen ein buddhistisches Kloster mit einem beeindruckenden, als Gesamtkunstwerk rundherum mit bis zu 800-Jahre alten
Tonfiguren und –reliefen ausgestalteten Tempelraum.
Vor der Heimfahrt fanden wir uns schlieĂźlich alle noch in einer kleinen Seidenweberei wieder, die sich auf die Herstellung hochedler japanischer
Kimono-Schärpen spezialisiert hatte. Schien dies zuerst etwas an der Zielgruppe vorbei zu gehen, so wird tatsächlich eine dieser bis zu 10 Meter langen, auch komplett nach Kundenwunsch zu gestaltenden Schärpen
demnächst ein amerikanisches Treppenhaus in Shanghai schmücken. In jedem Fall wurde die Bedeutung des Begriffes Kunsthandwerk im Gewirr der Fäden, der Unzahl der einzelnen Spindeln und Schiffchen eindrucksvoll
illustriert.
Salome und Funkenmariechen
Der November war u.a. geprägt vom Shanghai Art Festival, das uns das Cape Town City Ballet (gemischtes Programm) und die Sydney Dance Company (Salome
– sehr beeindruckende Inszenierung als modernes Tanztheater) bescherte.
Gleichzeitig wurde in einer Mall in Shanghai eine Leistungsschau von Produkten aus Baden-Württemberg eröffnet. Zur Eröffnungsfeier auf einer Bühne vor der
Mall gab es eine kleine Show zum Thema „Deutscher Karneval“, für die Sandra mit Mädchen der Deutschen Schule einen Funkenmariechen-Tanz eingeübt hatte, was den Mädchen sichtlich Spaß machte und
dementsprechend gut gelang - sehr lustig. FĂĽr uns entsprangen diesem Engagement Sandras noch zwei VIP-Freikarten zum wiederum im Rahmen des Art-Festivals stattfindenden Konzert der Stuttgarter Philharmoniker
zusammen mit einem Shanghaier Chor: Tannhäuser-Ouvertüre und Beethovens 9. . Insbesondere im Angesicht eines absolut berauschend singenden Chores noch viel, viel beeindruckender, als wir es uns vorgestellt hatten
– mit Musikern auf der Bühne, die wir schon dereinst in Ulm gehört hatten. So klein ist die Welt.
Natürlich gibt es auch weniger erfreuliche Nachrichten, so z.B. dass Frieders Vikings erfolgloser denn je spielen (aber die Wende ist in Sicht –
ehrlich – ganz sicher – gut vielleicht – angenommen wenn....) und es nach wie vor keine zuverlässige Haribo-Quelle in dieser Stadt gibt – aber das sind dann auch schon die aktuell größten Probleme.
Ihr seht gerade ist wirklich alles im Lot. Die steigende Arbeitsbelastung Frieders hat kurz einige Eingewöhnungsspannungen produziert, die aber auch
schon wieder ĂĽberwunden sind.
In diesem Sinne hoffen wir auf weiterhin gute Zeiten im Reich der Mitte
Liebe GrĂĽĂźe und zaijian von
Sandra und Frieder
|