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S u. F. Demmer
Unterwegs in China
Mongolei

 Ã„ußere Mongolei – wirklich ganz weit weg sein 

Ein völlig verwaister Fughafen, eine spartanisch-lärmende Antonov 24, die in magenverdrehender Manier auf die Landebahn zustürzt, um dann doch sicher zu landen, Pizza, Plüsch und Beethoven umgeben von grau-verwahrloster Steppenstadttristesse, endlos staubige Weiten, ziehende Herden aus Pferden, Schafen, Kühen, Yaks und Kamelen, blauer Himmel mit gleißender Sonne, wütendes Grau im beißend kalt pfeifenden Sturm, milchsaurer Ayrak und Hammelsuppe in Nomadenjurten, ausgebleichte Skelette, kreisende Geier, ein vor 70 Jahren mörderisch zerstörtes Kloster, in dem die Nachfahren der Überlebenden darauf warten, dass eine hölzerne Sänfte sie eines kommenden Tages zum neuen Lama führen wird, eine Wüste in strahlend weißem Schneegewand, Haribo, Butterkeks und saure Gurken – kaum ein Augenblick in unseren gerade sechs Tagen in der äußeren Mongolei, in dem nicht alles zu rufen schien: Und hier ist wirklich alles anders - inklusive dieser drolliger Weise überwiegend mit ur-deutschen, selbst in Shanghai bisher nicht erhältlichen Produkten gefüllten Supermarktregale!

Nicht wegen der Supermarktepisode, ansonsten aber eindeutig: Unser Abstecher in die Mongolei war unsere eindruckvollste Reise seit wir nach dem Studium in Nepal waren, wunderschön, befremdend, beunruhigend, herausfordernd und berührend in einem.

 Mongolei – gibt es das wirklich?

 Wenn wir ehrlich sind, dann hätten wir noch bis vor Kurzem nicht auf Anhieb sagen können, ob die Mongolei nun ein Staat, eine Landschaft oder doch nur ein legendäres Märchenreich ist. Von Natsagiin Bagabandi, seines Zeichens mongolischer Staatspräsident, hatten wir nie gehört.

„Wie ein Ei zwischen zwei Steinen“ liegt die riesige Mongolei (viermal so groß wie die Bundesrepublik) zwischen den noch gewaltigeren Nachbarn Russland und China. Es gibt keinen Seehafen, mit dem Trans Mongolia genannten Teilstück der berühmten Transsib nur eine internationale Bahnlinie und genau zwei asphaltierte Handelsstraßen. Man exportiert Kupfer, Wolle und Textilien – alles nicht in weltbewegenden Ausmaßen. Gerade 2,8 Millionen Menschen leben in diesem Land. Sie sprechen - auf den ersten Blick verwunderlich - eine dem Türkisch verwandte Sprache, eine kulturelle Achse, die dereinst die Hunnen legten.

Rund die Hälfte der Mongolen drängen sich in den „Städten“, die durchweg schmucklose Industriesiedlungen sind. Sie drängen sich dort, obwohl sie bis heute mit der Idee „Stadt“  nicht viel anfangen können. Nur wenn ein harter Winter wieder viel Vieh gekostet hat, dann scheint gerade den Jüngeren das geheizte Apartment in der Stadt und eine geregelte Arbeit verlockend – unter den gegebenen, deprimierenden Bedingungen bleibt dies aber meist keine Verlockung von Dauer.

 

Die andere Hälfte der Menschen lebt dementsprechend weiter - auf dem oder besser gesagt: durch das Land - ihr seit Jahrhunderten unverändertes, autarkes Nomadenleben. In diesem Leben liegt die eigentliche Identität und der Stolz der Mongolen: Fähig zu sein, in völliger Unabhängigkeit eine der unwirtlichsten Landschaften unseres Planeten zu beherrschen: Im Jahresmittel liegt die Temperatur unter Null, dass heißt im Sommer kurz bei über 30 Grad, im langen Winter dann bei bis unter –40 Grad. Wie wir selbst erlebt haben sind Temperaturstürze bis zu 30 Grad eine Sache von Stunden. Wer hier lebt und überlebt, den kann wenig schrecken.

Und so scheint es heute ebenso logisch wie dann doch wieder eine geradezu absurde Wendung der Geschichte, dass die heute fast vergessenen Mongolen aus diesem unwirklichen Nichts der Steppe heraus dereinst das größte Reich aller Zeiten schufen, von China über Russland bis in die arabische Welt hinein .

Sie taten dies unglaublich grausam, vor allem aber basierend auf der Fähigkeit schnell auf das Wesentliche zu kommen, einer Fähigkeit, die ihnen die Steppe bis heute tagtäglich abverlangt. Sie waren die bei Weitem besten Reiter und Bogenschützen ihrer Zeit und verfügten zudem über die ausgefeiltesten Kommunikationswege. In Kriegszeiten brauchten sie nichts außer sich selbst und ihre Pferde – für eine Weile schienen sie schier unbesiegbar, eine Kriegsmaschine mit einer Effizienz jenseits damaliger Vorstellungskraft.

Aber die Mongolen versäumten es, sich zudem unverzichtbar zu machen. Ein chinesischer General warnte: „Ein Reich, das auf dem Rücken der Pferde erobert wird, lässt sich nicht vom Rücken der Pferde regieren.“ Als vor Japan ein riesiges Mongolische Heer in einem sagenumwobenen, wie die Japaner sagen, herbeigebeteten Taifun untergeht, ist dies der Anfang vom Ende – nur knapp 100 Jahre währt die mongolische Ruhmesgeschichte.

Dschinghis Khans Reiterheer, Khublai Khans Palastwelt „Xanadu“ bewegen bis heute die Gemüter der Welt und entlang der Erzählungen über seine berühmtesten Söhne, scheint der gegenwärtige Staat Mongolei in noch weitere, als nur die geographische Ferne entrückt, fristet in unseren Köpfen ein eigentümliches Dasein zwischen Mythos und Wirklichkeit.

Aber er ist da: riesengroß, mit spektakulären Blicken, die wir, zigarettenwerbungsverblendet wie wir sind, intuitiv wohl erst einmal mit den Great Plains oder Monument Valley in den USA verbinden würden. Mit dem Unterschied, dass wir in der Mongolei tatsächlich allerorten noch Reiter in halsbrecherischer Manier Kühen und Pferden mit dem Lasso hinterher jagen sahen, bzw. alleine, in sich versunken, die nicht enden wollenden Weiten durchreitend –  der Marlboro-Man und der „Lonesome Cowboy“, sie leben heute in der Mongolei. Sie tragen lange, wollene Umhänge mit bunten Schärpen und überlangen Ärmeln und sie reiten auf hohen, hölzern-ledern, bunt verzierten Satteln ihre heiß geliebten, unendlich zähen, kleinen, struppigen Steppen-Pferde. Man sagt, dass Mongolen Reiten vor dem Laufen lernen, – die Wahrheit ist, dass sie es gleichzeitig tun.

Zuviel Romantik? Natürlich gibt es auch die Geschichten über hohe Arbeitslosigkeit und rasant steigende Kriminalität. Aber das sind die Geschichten aus den Städten, diesen grauen Gebilden, die für die Mongolen letzte, ungeliebte Zuflucht sind, wo das Leben leichter sein soll, aber sich schnell als um so viel trister herausstellt.

Der Nomadenalltag ist hart und in vielem eintönig, die Tiere garantieren das Überleben, zwingen den Menschen aber dafür ihren Rhythmus auf. Ein niemals endendes Wechselspiel, das aber in sich stets und unmittelbar sinnvoll bleibt. Ich denke nicht, dass wir so leben könnten, geschweige denn wollten, aber die Begegnung mit solchen, im klassischen Sinne nicht „entfremdeten“ Lebensweisen hat jedes Mal etwas sehr tiefgehendes, ergreifendes, erdendes: Genau! Darum geht es, geht es nach wie vor und wird es immer gehen.

Die Mongolei, das war noch viel weiter weg, als wir uns vorgestellt hatten, aber sie ist umso mehr ganz und gar wirklich.

 Eine Wüste im Winterkleid

 Es ist der Morgen des vierten Tages. Gestern, das war stundenlange Fahrten durch ein grau verstürmtes Niemandsland. Peitschend kalte Winde, die uns nur Minuten draußen aushalten ließen, bevor sie uns zurück in den blechernen aber unverwüstlichen russischen Allrad-Van oder bei der Mittagsrast in eines der „Ger“ genannten, traditionellen Rundzelte aus Filz trieben. Schnee, der die ungeschützte Haut wie Nadelstiche traf. Kein Gedanke mehr an die sanfte Wohligkeit unseres ersten Abends, an dem wir aus einem windgeschützten Talkessel heraus die Blicke über einzelne dastehende Felsformationen der Ebene wandern ließen. Alles schimmerte im  Abendlicht warm und rot. Im Sturm war nichts mehr übrig von diesen endlosen Weiten, die einem stets zuzurufen schienen: Lauf, lauf hinaus! Die Blicke verloren sich nach nur wenigen Metern im Nichts – alles wurde gleich, gleich trostlos und damit mit einem Mal auch bedrohlich. Ohne Führer und Fahrer hätten wir nicht mehr die geringste Orientierung gehabt – keine Ahnung wie Mejet und Geril die ihre behielten.

Wie froh waren wir, als wir nach zwei vergeblichen Anläufen in günstige Unterkünfte zu kommen, unsere beiden Begleiter überreden konnten, in ein für ihre Maßstäbe unvorstellbar teures Touristencamp einzukehren. Wie froh waren wir, abends wieder umgeben von den schützenden und sich selbst unter diesen Bedingungen warm anfühlenden Filzwänden eines Gers am Ofen sitzen zu können. Ein Abend zwar ohne die eingelebte, farbige Heimeligkeit eines Nomaden-Gers, ohne die ruhige Freundlichkeit einheimischer Gastgeber, aber ein Abend und eine Nacht, die stürmend schneiend die herausragende Funktionalität des traditionellen mongolischen Rundzeltes wieder eindrucksvoll unter Beweis stellten. Das war gestern.

Jetzt dringt erstes Morgenlicht durch die dünne Zeltbahn, die zur Regulierung der Lüftung eine Hälfte des gut einen Meter durchmessenden, schweren Giebelrads im Zentrum des Jurtendaches abdeckt. Das Dach selber ist flach abfallend, von zig bunt bemalten Speichen getragen, einfach auf die jägerzaunartigen, faltbaren Seitenwände aufgesetzt. Straff gespannte Stoffwicklungen rund um eine isolierende Filzschicht machen aus diesem losen Verbund von Holzleisten eine fabelhafte, sich in alle Richtungen selbst stützende Gesamtkonstruktion, in der bis zu acht Personen wirklich kein Wetter und keinen Sturm zu fürchten brauchen. Gesamtgewicht 250 Kilogramm, Auf- und Abbauzeit ca. 1 Stunde.

Mich holt in diesem Morgenlicht, umgeben von mongolischer Ãœberlebenskunst, menschlichster und kulturübergreifender Alltag ein: Ich muss auf Toilette.  Das touristische Ger-Camp hat ein echtes, beleuchtetes Dusch- und Toilettenhaus, für die Steppe absoluter Megaluxus. Sonst heißt es, sich hinter einen Busch zu verkriechen oder sich einfach so weit vom Rest der Begleiter zu entfernen, wie man es für angemessen hält. Es ist schon leidlich warm in unserem Ger, da um fünf Uhr ein Bediensteter des Camps den Ofen neu angeheizt hat – ein mächtiges Stück Holz glüht mehr schlecht als recht – aber es glüht.

Draußen wird es anders sein, drum ziehe ich selbst für den kurzen Gang feste Schuhe, lange Hose, Fließjacke und Anorak an. Zügig öffne ich die niedrige Holztür, trete schnell hinaus und schließe den Eingang wieder. Dann stehe ich draußen, richte mich auf und staune. Absolute Ruhe. Am ersten Tag hatten wir in dieser Gegend eine unwirtliche, von dornigen Sträuchern durchsetzte Sandlandschaft durchschritten und gelbe Wanderdünen erklommen. Welch eine Veränderung. Ich finde mich umgeben von einem unberührt weißen Wunderland. Die Luft ist klar und frei von jeglichem Staub der Steppe, so klar, dass mir unvermittelt Blitzlichter von Momenten auf Gipfeln und Bergstationen in der Heimat in den Sinn kommen. Aber selbst dort war nicht diese unglaubliche Ruhe. In der Ferne grüßt majestätisch markant die einsam ebenmäßig dastehende Fels-Pyramide eines mächtigen Berges. Mejet wird ihn später „Mount Mongol“ nennen. Ich höre jeden meiner Atemzüge, höre gar die Haare, die über den Anorakkragen streifen, jede Reibung der Stoffe meiner Kleidung, ich mache einen ersten Schritt in den unberührten Schnee und lausche auf das vertraute Knarzen des Schnees unter dem Gewicht meines Trittes. Wieder halte ich inne. Es ist wie ein Bad, ein Bad in vollkommener Klarheit und Ruhe. Umdrehen. In der Ferne leuchten im Licht der Morgensonne verschneite Gebirgszüge – Nahe des Camps ragt eine einsame Felsformation ohne jede Schneespur eigentümlich rot aus der Ebene – aufgeheizt wohl der Stein von den Wochen des Sonnenscheins davor. Ich drehe mich zurück.

 

Ich ging schließlich auch jenem Bedürfnis nach, das mich eigentlich nach draußen gebracht hatte, aber dieser Augenblick blieb unverändert stehen – bis jetzt, und ich denke, er wird ab jetzt wohl immer da sein, wenn es darum gehen wird, in mir nach Ruhe zu suchen.

 

Tsolmon – oder die Kunst zu leben

 

Das erste Mal sehen wir Tsolmon, wie sie lachend eine Stute melkt, während Batdorj Mutter und Fohlen so beieinander hält, dass der Milchreflex ausgelöst wird, das Fohlen aber (noch nicht) saugen kann. In der Folge werden wir Batdorj und Tsolmon alle zwei Stunden zu diesem Ritual aufbrechen sehen. 10 Stuten, alle zwei Stunden, tagein, tagaus.

Tsolmon ist 27, eine mongolische Schönheit voller Kraft, lachend, ruhig, freundlich. Batdorj, ihr Mann ist nierenkrank. Tatsächlich wirkt er zierlicher und weicher als viele Mongolen, doch sein Handschlag ist ebenso herzlich wie klar und kräftig. Noch reitet er hinaus, um die Tiere einzutreiben, doch Mejet sagt, Tsolmon ist die, die die Hauptlast des Alltags tragen muss – unterstützt von Batdorjs Bruder, dem Tsolmon kaum weniger nah zu stehen scheint, als ihrem Mann.

In der Jurte folgt Tsolmons Wirken verinnerlichten Abläufen: Jeder Handgriff sitzt. Routiniert der Wechsel der Hilfsmittel, die wechselweise geholt und sofort wieder an ihren Platz gestellt werden, routiniert der Gebrauch des in eine Ofenmulde eingesetzten Woks: Kochen, auskochen, kochen, auskochen. Immer wieder steigen dicke Dampfschwaden in den Dachhimmel und durch das offene Giebelrad, während die Glut im gedämpften Licht der Jurte rot durch die Lüftung des Ofens schimmert. Dampfschwaden, die wechselweise die Düfte von gesalzenem Milchtee, fettem Hammel-Eintopf oder wie an diesem Tag, handgemachten Nudeln mit Fleisch, Kartoffeln und Kohl in sich tragen.

Abends ist Tsolmon die letzte, die wacht, um die schafwollenen Umhänge Batdorjs und ihrer selbst noch über die Füße der schon schlafenden Gäste breiten zu können. Bevor sie sich hinlegt flüstert sie Sandra, die dem Bett der Gastgeber am nächsten liegt noch ein sanftes „Good Night“ zu – das einzige Mal, das wir sie etwas Englisches sagen hören. Morgens ist wieder sie die erste, die aufsteht um den Ofen anzuheizen und wunderbar frischen Rahm für das Frühstück zuzubereiten. Nach dem Frühstück gilt es die Kühe zu melken und wir brechen auf, während Batdorj schon wieder die Stuten zusammentreibt.

Als wie losfahren steht Tsolmon an der Tür des Ger, den Eimer in der Hand, sie winkt und sie lacht.

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