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S u. F. Demmer
Unterwegs in China
Chengdu

Von Lanzhou nach Chengdu –mystische Welten zwischen zwei Millionenstädten

  

Lanzhou und Chengdu, ferne Provinzhauptstädte im mittleren Westen. Meistens gehen sie unter im Medienhype rund um die Boomstädte Shanghai, Shenzen etc.. Doch, wie sollte es im bevölkerungsreichsten Land dieser Welt auch anders sein, auch Lanzhou und Chengdu sind Millionenstädte, Millionenstädte mit - im möglichen Rahmen der ärmeren West-Provinzen - sehr eigenen Charakteren:

 Lanzhou, muslimisch geprägt, in einer kargen Landschaft, mit einem Hauch von Orient, Chengdu, fast mit einer Art sĂĽdländischem Flair, umgeben von subtropischen Wäldern und Bergen.

 Die beiden Städte waren fĂĽr uns Ankerpunkte fĂĽr eine Reise der etwas anderen Art, fĂĽr eine Reise in den „wilden Westen“ Chinas. Ziel war das Land zwischen den beiden Regional-Zentren: 800 km „Wildnis“, ewige Schotterpisten, nur wenige AsphaltstraĂźen. Der Lonely Planet „China“ kĂĽndigt vorsichtshalber gleich die eine oder andere Geduldsprobe an. Sigrid Seel, unserer Reisefachfrau in Shanghai ergänzt, dafĂĽr bekäme man aber auch Einblick in eine Gegend, in der tibetische Kultur noch mit am ursprĂĽnglichsten zu erleben sei, quasi tibetischer als in Tibet. Genug GrĂĽnde fĂĽr uns, sehr gespannt und aufgeregt zu sein.

 â€žUns“ heiĂźt in diesem Fall Sandra, sowie Trauzeugin Doro und Ihr damaliger Herzallerliebster Otto.  Beide Gäste wollten nach einem Besuch in Shanghai und ersten alleinigen Erfahrungen in Peking China recht umfassend auf eigene Faust durchreisen – das erste StĂĽckchen konnte Sandra sie noch begleiten – sozusagen die Aufwärmphase. DafĂĽr flogen sie zunächst von Shanghai nach Lanzhou. Hier beginnt die eigentliche Erzählung:

 

Labrang – Zentrum des Glaubens

 Der Flug ist unproblematisch. Der erste Fahrtag verläuft deutlich rau, aber vielversprechend. Ein Bus hat eine kleine Panne, die jedoch schnell behoben ist, und die einstĂĽndige „möchte-nicht-doch-noch-jemand-spontan-mitfahren“-Promo tion-Tour des Anschlussbusses in dem zuvor nie gehörten Steppenort Linxia ist auch eher skurril denn schlimm. Nach einem Tag Staub und Holper kommen wir gerädert aber zufrieden an: Unser erstes Ziel ist erreicht, wir sind in Xiahe.

 Die eine Hälfte von Xiahe ist muslimisch geprägt, was von auĂźen u.a. durch einen zunächst ĂĽberraschenden Halbmond auf einer zwar hohen aber sonst nicht weiter ungewöhnlich aussehenden Pagode erkennbar ist: Das Minarett der hiesigen Moschee. Das Leben in der anderen Hälfte des Ortes wird von Tibetern bestimmt. Beide Volksgruppen leben zumindest vordergrĂĽndig friedlich zusammen. Das wĂĽrde den Ort fĂĽr sich schon interessant machen – doch diese Besonderheit steht ganz klar im Schatten der eigentlichen Attraktion, die zwar auch zunehmend Touristen anzieht, vor allem aber Tausende von Einheimischen:

Kloster Labrang,  traditionsreich, staubumweht auf fast 3000 m Höhe gelegen.

 Labrang! Trotz weitreichender Zerstörungen während der Kulturrevolution ist die verbliebene, sich an einen Hang des weitläufigen Hochtales schmiegende Anlage noch immer sehr beeindruckend: 1200 buddhistische Mönche leben hier und ihre dunkelroten Kutten bilden einen fortlaufend aufreizenden Kontrast zu den blassen Erd-Farben der kargen Landschaft. Das tiefe Rot ist gleichsam Spiegel der auĂźergewöhnlichen Energie dieses Ortes, jener reinigenden Energie, die auch die vielen Pilger hier zu finden hoffen.

Am frĂĽhen Morgen reihen wir uns erstmals ein in den Menschenstrom durch den drei Kilometer langen  GebetsmĂĽhlengang rund um die gesamte Klosteranlage. Die langen Mauergänge wirken mehr gewachsen denn erbaut. Unablässig ziehen alte wie auch junge Menschen in den traditionellen tibetischen Trachten „Om mane padme hum“ murmelnd, eine GebetsmĂĽhle in der Hand drehend oder sich alle drei Schritte auf den Boden legend, wieder und wieder um die Tempel. Bilder aus einer anderen Welt. Zahllose Butterlampen verbreiten ihren typischen, fĂĽr uns leider nur wenig anheimelnden Geruch. Die Gesichter der teils weitgereisten Betenden erzählen Geschichten vom Leben auf dem Land: Braune Haut, gegerbt von der Sonne, vom Staub und von der trockenen Luft. Die Härten und Segnungen im naturbestimmten Leben dieser Menschen spiegeln sich in der ruhigen Ernsthaftigkeit und Selbstverständlichkeit ihrer Gebete.

 EindrĂĽcke, die auch in der Nacht noch in uns arbeiten: ruppige Kargheit, bunte Pracht, schiere Größe, Demut.

 Nächster Tag: Eine kleine Rundwanderung steht im Zeichen des getrennt liegenden Frauenklosters. „NatĂĽrlich“ ist es viel, viel kleiner als Labrang, am Dorfrand von Xiahe eher unauffällig an und in den Hang gebaut. Meine Freundin fĂĽhlt sich ob der hier vorherrschenden urtĂĽmlichen Lehmbauweise spontan an ihre Zeit in Afrika erinnert - wie anders, als der weithin sichtbare Glanz Labrangs.

 Unser Weg fĂĽhrt uns weiter, den Berg hinauf, wo wir zu den Ruinen des frĂĽheren Nonnenklosters kommen. Nur ein paar klägliche Mauerreste sind geblieben – wir haben solche bis auf die Grundmauern zerstörten Anlagen schon andernorts gesehen: Was sich hier dereinst abspielte, mag man sich gar nicht vorstellen.

 Etwas Erleichterung von solchen Gedanken bringt uns der Blick auf die ersten Gebetsfahnen. Auf einem nahegelegenen Buckel flattern sie bunt und lebhaft rund um eine schlichte Tschörte. Der Glaube an die  durch den Wind immer wieder von den Fähnchen in das Land hinaus getragenen Gebete gehört zu den zahlreichen freundlichen, lebens- und naturnahen Ideen des Buddhismus – vom rein optischen Reiz dieser Glaubensstätten mal ganz abgesehen.

 In der Nähe finden wir in einer Wiese mehrere graslose Vertiefungen. Auch dieses sind Spuren aktiven Glaubens: Fest an einem Platz verweilend beten hier die heutigen Nonnen, sich immer wieder hinkniend, auf die Erde legend, aufstehend, u.s.f. , bis sich allmählich staubig ausgetretene Mulden ergeben. Es entfährt uns ein unwillkĂĽrliches kleines KopfschĂĽtteln ob der selbstauferlegten Disziplin, die in ihrer Einfachheit und Klarheit schlieĂźlich auch den wirren Wahn der verblendeter Verfolger ĂĽberdauert hat.

 Wir schauen ins Tal. In der Ferne zieht auch an diesem Tag ein nicht abreiĂźender Strom von Pilgern durch den GebetsmĂĽhlenweg. Erst von hier fällt uns auf, dass insbesondere einer der Stupen dicht umlagert ist. Seine besondere Bedeutung erfahren wir leider nicht, Gesundheit, Fruchtbarkeit und auch ErnteglĂĽck oder auch vieles anderes wäre vorstellbar, je nachdem was die Menschen gerade besonders beschäftigt, auf Grund von Jahreszeit, Festtagen, Naturereignissen und so fort. Es liegt immer wieder eine eigene Faszination und Kraft in der Begegnung mit dieser mystischen, ritual- und bilderreichen Weltenwahrnehmungen, die wir „Westler“ kaum noch nachvollziehen können.

 Wir gehen weiter und gelangen zu einem Friedhof  - zunächst kaum als solcher zu erkennen, nur eine Wiese mit ein paar Fähnchen. Dann jedoch sehen wir etwas im Gras liegen. Wir sind kurz unsicher, gehen heran: Doch es ist tatsächlich ein menschlicher Schädel.

 Die Leichenbestattungen in dieser Gegend finden in Form eines uns zunächst wenig komfortabel stimmenden „Himmelsbegräbnisses“ statt: Die Toten werden nach einer Zeremonie weder begraben noch verbrannt, sie werden zerstĂĽckelt und an diesem Platz den Geiern ĂĽbergeben. Keine Frage, dieses „Himmelsbegräbnis“ ist nĂĽchtern betrachtet ganz natĂĽrlicher Teil des Zyklus des Lebens, dem die Menschen hier nur folgen: Honi soit qui mal y pense... – aber ein kleiner Schauderer bleibt dann doch.

 Ein letzter Abstecher in ein Seitental fĂĽhrt uns zu einem kleineren Tempel, zu dem gerade auch ein Mönch aus Labrang schreitet. Am Tempel angelangt lädt uns der dortige Lama (wir vermuten zumindest, dass es einer ist) freundlichst ein, doch der kleinen Zeremonie fĂĽr den Mönch beizuwohnen. Auch ohne ein Wort zu verstehen ist die Stimmung und Dichte wieder berĂĽhrend, und wie zur Bestätigung, dass hier Natur und Mensch wirklich zusammenfinden, erscheint direkt anschlieĂźend an die Zeremonie am Himmel ein schillernder Sonnering - wohl Zufall, aber mit jeder Stunde rund um Xiahe tun wir uns schwerer, das Alles so ganz und gar „aufgeklärt“ abzutun.

 

„Indianer“,  Apfelkuchen und kein Weiterkommen

 Nach drei Tagen heiĂźt es Aufbruch und da bei aller „EntrĂĽcktheit“ die spontane Levitationen dann doch noch nicht funktionierte, gönnen wir uns dafĂĽr ein Auto (richtig geraten: einen VW Santana... ;-)) mit Fahrer. Zusätzlicher Begleiter wird der Mönch Tden, denn wir haben nur „one-way“ gebucht, und die StraĂźen sollen so schlecht sein, dass es der Fahrer vorzieht, fĂĽr den RĂĽckweg nicht alleine zu sein. Verständigungssprache ist Chinesisch. Unserer Begleiter Englisch und ganz bestimmt unser Tibetisch sind dann doch eher rudimentär. So mĂĽssen wir auf jene fĂĽr den Mönch wenig geliebte, da in der Schule zwangsvermittelte Sprache ausweichen. Aber auch er weiĂź: das ist immer noch besser als frĂĽher, als man gar nicht mit Ausländern sprechen konnte!

 Die ersten Kilometer fĂĽhren durch ein gewaltiges, ursprĂĽngliches Grassland: Schier endlose Weiten in klarer Luft, Rinderherden, hellgrĂĽnes Steppengras vor weiĂźen Schneebergen am Horizont. Traumhaft. Nach einer guten Stunde kommen wir in den nächsten Ort – Amdo. Am Ortsrand steht wieder ein Kloster. Erst denken wir, genug Klösterliches gesehen und erlebt zu haben, doch glĂĽcklicherweise siegt die Neugier ĂĽber diese Anwandlung von Trägheit und wir entscheiden uns doch noch fĂĽr einen kleinen Abstecher zu der von auĂźen eher schmucklosen Anlage, die auch in keinem unserer ReisefĂĽhrer erwähnt ist.

 Die Mönche sind sehr neugierig ob des offensichtlich seltenen Besuches, sowohl was uns selbst als auch unser Auto betrifft, buddhistische Mönche sind in der Regel alles andere als weltfremd. Das Kloster ist so ganz nett, zunächst aber auch nicht mehr. Wir wollen schon wieder weiterfahren, nur noch kurz auf einen Sprung zu einem schönen Fotoplatz gehen, als unser Blick rein zufällig durch das Tor eines Nebenhofes fällt - und wir trauen unseren Augen kaum: neben dem mittlerweile schon gewohnten Anblick dunkelroter Mönchskutten erblicken wir hier eine ganz und gar erstaunliche Gruppe von Männern. Spektakuläre, farbenprächtige Gewänder und ungewöhnlich lange schwarze Haare, die uns spontan an Indianer denken lassen. Alle tragen einen kronenartigen Kopfschmuck: „Le was ist das?“

Nach kurzer Überlegung wagen wir uns in diesen Nebenhof und werden zu unserer Erleichterung sofort herzlichst empfangen. Die Stoffe der (so nehmen wir zu diesem Zeitpunkt schon mal an) Zeremonien-Gewänder sind wahre Wunderwerke, ähneln farblich den bunten buddhistischen Tangka-Malereien. Über diesen Kutten hängt ein abenteuerliches Netz von geschnitzten Ketten aus Horn oder Knochen. Die so auffälligen langen schwarzen Haare erweisen sich als geflochtene Perücken. Es dauert eine ganze Weile, bis alles gerichtet ist, alle Ketten fertig eingehängt sind, alles sitzt.

Bis dahin werden wir und - wiederum ganz weltlich - Ottos Digitalkamera, von den umstehenden Mönchen intensiv gemustert.

Schließlich ist es soweit: Feierlich zieht die farbenfrohe Prozession in den Tempel ein. Eine Schar von Pilgern drängt herein, um wie wir einen Blick auf das zu erhaschen, was da kommt, oder vielleicht doch eher, um an dem folgenden Ritual wirklich teil haben zu können, dessen Bedeutung uns allerdings zunächst vollkommen verschlossen bleibt:

Die Mönche beginnen mit tiefen, eindringlichen Stimmen zu singen, tanzen mit bis in die Fingerspitzen abgestimmten Bewegungen um ein mehrere Quadratmeter messendes, weiĂźes Tuch auf einem niedrigen Tisch. Auf dem Tuch sind mehrere Häufchen von GewĂĽrzen, Reis oder  Ă„hnlichem verteilt.

Mehr sehen wir nicht mehr: Ganz gefangen von der sich zunehmend aufbauenden Macht des Schauspiels müssen wir trotzdem aufbrechen, zu groß noch das Wegstück vor uns, um noch länger zu verweilen.

Später, in unserem Zielort Langmusi, treffen wir einen Pekinger Ethnologen, der gerade seine Doktorarbeit über Rituale im tibetischen Buddhismus schreibt. Anhand der Aufnahmen Ottos erklärt er uns, dass wir vermutlich glückliche Zeugen der Vorbereitungen für das Streuen eines großen rituellen Mandalas waren, was wiederum Teil einer Fruchtbarkeitszeremonie sein könnte. Möglicherweise - denn die Rituale hätten sich in den - vor Aufkommen des Autos - oft mehrere Tagesmärsche voneinander entfernten Klöstern sehr unterschiedlich entwickelt.

 Wie erwähnt ist „Langmusi“, mit seinem sich fĂĽr uns ĂĽberraschend volkstĂĽmlich lesenden Namen, unsere nächste Station. Tatsächlich spricht sich Langmusi im Chinesischen dann doch etwas trockener: „Lang Mu Ăźe – was aber ja auch nicht ohne Reiz ist ;-).

Zur Muße trägt nicht zuletzt „Lesha`s Cafe“ bei – Lesha, eine junge, selbstbewusste Frau der muslimischen Minderheit, serviert hier nicht nur leckere Momos (tibetische Teigtaschen) und „Yakburger“, sondern auch ofenwarmen Applepie und Chocolate Cake! So schön es ist, sich auf Reisen an den typischen Gerichten der jeweiligen Gegend zu versuchen, so ist gerade in „Yakbutterland“ ein bisschen Heimatliches und Vertrautes, vor allem wenn es so lecker ist, dann doch eine hochwillkommene Abwechslung.

Neben diesem kulinarischen Highlight ist das Dorf schlicht atemberaubend gelegen: sattes GrĂĽn entlang gurgelnder Wasserläufe zwischen langgezogenen, spektakulär in der Abendsonne leuchtenden Felsgraten und staubigen Steppenwiesen. Dies ist die Kulisse fĂĽr eine der ursprĂĽnglichsten tibetischen Siedlungen in der Region. Schnell sind wir von der besonderen Stimmung eingefangen: mehrere Tempel und Klöster verteilen sich ĂĽber den Ort, dazwischen ducken sich alte, traditionelle Häuser, ĂĽber denen sich in der FrĂĽh stimmungsvoll der Morgen-Dunst mit dem Rauch der Herdfeuer mischt. An der Quelle des  Flusses, der Langmusi mit Wasser versorgt, finden wir sorgfältig aufgeschichtete Gebetssteine und wehende Gebetsfahnen. Der Segen des Wassers wird nicht einfach als selbstverständlich hingenommen. Unablässig arbeiten die von Wind und Wasser angetriebenen GebetsmĂĽhlen. Der weit tragende Klang von Muschelhörnern schafft Gänsehautatmosphäre - sehr schwer sich davon zu lösen und Abschied zu nehmen.

 Tatsächlich kommen wir ungewollt (oder doch nicht? )noch einmal zurĂĽck: Der wichtigste Pass auf unserer nächsten Tagesetappe erweist sich als unpassierbar – Regen hat ein Stelle von vielleicht 50 Metern Länge dermaĂźen aufgeweicht, dass jedes normale Fahrzeug stecken bleibt. Ein LKW nach dem anderen konnte dies wohl nicht glauben und setzte zum Ăśberholen an, bis er in zweiter Reihe stehend vor dem Schlammbad kapitulieren musste. Irgendwann war auch fĂĽr gute Geländewagen kein Durchkommen mehr (diese suchten sich dann einen abenteuerlichen Weg ĂĽber den Abhang...).

Mit unserem Santana reihen wir uns lieber brav in die Schlange von mittlerweile rund 70 wartenden Lkw`s ein, die Wagen fĂĽr Wagen, StĂĽck fĂĽr StĂĽck von einem Raupenfahrzeug ĂĽber den kritischen Bereich gezogen werden. Obwohl eigentlich schon lange genug in China lebend, vertrauen wir dabei  auf die Aussagen unserer Begleiter, dass in zwei bis drei Stunden alles wieder in Ordnung sein wĂĽrde. So verbringen wir Stunde um Stunde, wartend, hoffend. Den Hang hinauflaufend werden wir wieder einmal kopfschĂĽttelnd Zeuge von chinesischer „es-muss-doch-möglich-sein-mit-allen-Wagen-gleichzeitig-d urch-ein-Nadelöhr-zu-fahren“-Verkehrslogik. Die Lkw`s drängeln weiterhin in jede mögliche LĂĽcke, blockieren nach kurzer Zeit die gesamte Trassenbreite, so dass auch von oben kommenden Autos schlieĂźlich keinerlei Chance mehr haben durchzukommen.

Am späten Nachmittag treten wir den geordneten Rückzug an. In Langmusi finden wir nach langem Hin und Her einen einheimischen Fahrer, der einen anderen Weg kennt, um am nächsten Tag den Pass umgehen zu können. Unsere bisherigen, wirklich sehr netten Fahrer sind sichtlich erleichtert, dass sie zurück nach Xiahe fahren können und sich nicht noch einmal in das oben beschriebene Gewühl stürzen müssen.

Wir – auch nicht wirklich unglücklich – genießen eine zweite Portion von Lesha’s leckerem Apfelkuchen und erleben am nächsten Morgen noch einmal das urwüchsige Dorfleben. Immer wieder hören wir aus Häusern das Murmeln von Gebeten. Ein Gelbkappen-Mönch zieht von Tür zu Tür. Am späten Vormittag treffen wir einen weiteren Mönch, der eine große Trommel vor sich trägt. Man bleibt stehen und mustert sich. Er kann kein Englisch, aber während er unsere Teleskopstöcke bewundert, gewährt er uns einen kurzen Einblick in die vor einem Tempel liegende große Sutrenbücher. Nicht dass es uns wirklich helfen würde, aber aufregend ist es trotzdem. Nach einer Weile zieht er weiter mit seiner Trommel. Kündigt sie das Ende der Gebete an? Nein, das Gemurmel geht unverdrossen weiter, und noch immer sieht man zwischen den alten Holzdächern die gelbe Kappe des „Häuser“-Mönchs aufblitzen.

 Wir laufen zu einem Tempel auf einem HĂĽgel, der uns schon am Vortag von der Ferne reizte. Der Tempel ist leider verschlossen. Aus Erfahrung lernend verweilen jedoch kurz und tatsächlich kommt wieder nach kurzer Zeit ein Pilger mit einem Mönch vorbei, und so erhalten auch wir Einlass. Nichtsahnend schauen wir uns um und erblicken hinter dem Tempeltor auf der rechten Seite unter dem Dach hängend eine ganze Reihe von Tieren: Ziegen und Schafe. Im ersten Moment denken wir noch ganz naiv, es seien rituelle Stofftiere –- aber dann realisieren wir: es sind echte Kadaver, die da hängen, ausgestopfte Opfergaben der ganz eigenen Art, mal wieder Schauderzeit... .

  Viele Dinge in diesen Stunden und Tagen bescherten mir eine kleine Gänsehaut, rĂĽhrende wie erschreckende – vieles war fremd und fern. Die Frage, ob Sichuan in dieser Fremdheit heute tibetischer ist als Tibet, kann ich nicht beantworten, da ich selber nie in Tibet war. Ich kann fĂĽr mich nur sagen, dass ich schweren Herzens und wirklich tief beeindruckt diese Gegend mit ihren ganz besonderen Stimmungen hinter mir lieĂź. Viele Fragen blieben offen, vieles blieb unverständlich, doch damit nur noch reizvoller: Eine wirklich mystische Welt.

 

Blau glänzende Drachenschuppen, Stadtlärm und Tempelruhe

 Doch damit ist unsere Reise noch nicht zu Ende. Unser Weiterweg fĂĽhrt uns zunächst wieder hinaus auf die weiten Ebenen. Es geht vorbei an einsamen Nomadenzelten, rĂĽhrend-witzigen Murmeltieren, mahnenden Geiern. Dann wird es wieder bergig. Wir erreichen Huanglong, Chinas Antwort auf Pamukkale.

 Ein schön angelegter Weg fĂĽhrt hinauf zur der Hauptattraktion, die aus einer Formation angeblich strahlend blauer Naturpools bestehen soll. Schon von Anfang an geht es vorbei an zahllosen, in Form und Charakter abenteuerlich variierenden Sinterterrassen. Die meisten sind jedoch trocken, so dass in uns Zweifel aufkommen, wer, wann und wo die atemberaubenden Fotos gemacht haben könnte, die wir daheim in Bildbänden gesehen hatten.

 Huanglong – der „Gelbe“, was in China oft mit „Kaiserlich“ gleichzusetzen ist - der „Kaiserliche Drache“ also, gehört zu den nationalen Touristenzielen ersten Ranges, zu jenen Orten, die jeder Chinese einmal gesehen haben möchte. Nach der relativen Abgeschiedenheit unserer letzten Ziele werden wir in Huanglong von dementsprechend vielen, vielen Chinesen begleitet – die teils mit Sauerstoffflaschen und –kissen bewaffnet hinauf “stĂĽrmen“. Diese aeroben „Lebensretter“ gibt es im Tal zu kaufen, damit auch dem schnellsteingeflogenen GroĂźstadttiger auf ĂĽber 3000m unterwegs nicht die Puste ausgeht. FĂĽrsorge und Abzocke sind hier ein wechselseitig beglĂĽckendes BĂĽndnis eingegangen... .

 Gespannt folgen wir weiter dem Weg, was sich – mit oder ohne Kissen - als sehr lohnend erweist, spätestens wenn man schlieĂźlich die  „Multicoloured Pools“ erreicht:

 Auf einer von Waldhängen umgeben Fläche erstrecken sich hier feinstgestaffelte Kalkbecken wie ein ĂĽberdimensionales, leuchtendes Kachelfeld – oder eben wie die leuchtenden Schuppen eines riesigen Drachen. An den Beckenrändern manchmal leicht rötlich oder gelblich, strahlen die Wasserflächen tatsächlich in einem intensiven, unwirklich erscheinenden TĂĽrkis. So intensiv, dass mir kurz der Gedanke durch den Kopf schieĂźt, ob sie vielleicht gar mit Schwimmbadfarbe angemalt sind (wie dereinst die fĂĽr die Olympiabewerbung grĂĽngefärbten Rasenflächen Pekings). Aber dem ist nicht so. Es sind Mineralien im Wasser, die diesen unwirklichen Glanz erzeugen. Toll, und mit einem tiefen Schluck aus der Sauerstofflasche wirkt das Ganze wahrscheinlich dann noch einmal so schön :-).

 Am nächsten Tag ist wieder Fahren angesagt. Dieses Mal erweist sich die Fahrt als achtstĂĽndiger, absolut halsbrecherischer Höllenritt und wir sind trotz aller landschaftlichen Schönheit schlicht froh, als wir diese Erfahrung wohlbehalten in Dujiangyan abschlieĂźen können. Zumindest anfangs sind wir froh. Schon nach kurzer Zeit finden wir uns eingefangen und genervt von hektischem, lauten, staubigen GroĂźstadttrubel. Eigentlich normales China-Leben, aber der Kontrast zu der Welt, durch die wir uns die vergangenen Tage bewegten, macht den sonstigen Alltag annähernd unerträglich. Kaum etwas von unseren Stunden in der Stadt ist mir in Erinnerung geblieben – kein einziges Foto entsteht. Weiche von mir... .

 Schon der folgende Tag hat aber wieder Versöhnung parat:

Führte uns unser bisheriger Weg zu muslimischen wie auch buddhistischen Glaubenstätten, wartet nun auf uns ein Heiligtum der einzig originär chinesischen Religion, dem Taoismus: der heilige taoistische Berg Qincheng.

Der Berg beheimatet  zahlreiche Tempel in wunderbarer, ĂĽppig grĂĽner Umgebung. Es gibt traditionelle Pagoden, doch bedeutende Teile des Heiligtums sind uralt und beeindruckend direkt in den Berg hineingeschlagen.

Zwischen den Bäumen, dem glattem Fels und den hölzernen Giebeln verhallt der Trubel der Stadt schnell. Wir atmen durch, lassen auch diese Welt auf uns wirken und entspannen - wie wohl auch die zig Generationen von Mönchen vor uns.

 

Ein pandastischer Abschluss

 Letzte Etappe: Chengdu. Dort heiĂźt es Abschied nehmen von meinen Freunden. Gemeinsam sehen wir uns natĂĽrlich noch in Leshan den weltgrößten historischen Steinbuddha und das dazugehörige, fĂĽr uns fast beeindruckendere Kloster an. Dann gönnen wir uns gemeinsam noch eine letzte Attraktion, eine, die fĂĽr mich tatsächlich einer der HauptgrĂĽnde war, diese Reise ĂĽberhaupt anzutreten, den Alternativen Xi’an oder Kunming den Laufpass zu geben:

 Chengdus Pandabären!

 Auch in der fĂĽr den ein oder anderen vielleicht enttäuschend eingeschränkten Umgebung der Zuchtstation, und selbst fĂĽr uns, als bis unter die Nase mit wahrlich intensiven EindrĂĽcken vollgestopfte, mĂĽde „Es-geht-bald-zurĂĽck“-Touristen, erweist sich die Begegnung mit den rätselhaften Riesenteddies dann auch nicht mehr und nicht weniger als schlicht herzzerreiĂźend schön.

 Warum dereinst diese sanften Riesen entstanden, kann so recht niemand sagen, aber es wäre in jedem Fall ein Jammer, wenn wir zukĂĽnftigen Generationen nur noch aus der Erinnerung erzählen könnten, wie junge weiĂź-schwarze Riesenwollknäuels sich haarsträubend ungeschickt im Klettern ĂĽben, während die Eltern sich stoisch unbeirrt den Bauch kraulend ihre tägliche Wagenladung Bambusblätter wegkauen. Ein Eindruck, so ganz anders als der Rest der Reise – aber sicher nicht minder bleibend.

 Nach diesem letzten gemeinsamen Tag verabschieden sich meine Freunde in Richtung „Drei Schluchten“, die fĂĽr sie noch manch neues Kapitel anfĂĽgen wird.

 Ich selbst lasse meine Reise am Emei Shan, einem der heiligen Berge des chinesischen Buddhismus ausklingen. Die verbleibende Zeit reicht zwar nicht mehr aus um zu FuĂź den Gipfel zu erreichen (und auf eine weitere Berg-Busfahrt habe ich nach den letzten Fahrereien schlicht keine Lust mehr), doch auch die eineinhalbtägige Rundwanderung durch nebelverhangene, subtropische Wälder, aus denen immer wieder Klöster aus dem Dunst auftauchen - und hin und wieder auch mal ein Affe  - erweist sich als den Abstecher auf alle Fälle wert:

 Und wie könnte eine Reise schöner enden als mit einer Nacht im „Kloster des reinen Klanges“, idyllisch auf einem Felsen zwischen zwei Gebirgsbächen gelegen. Das Sprudeln des Wassers begleitet mich in den Schlaf, vom Gesang der Mönche werde ich geweckt.

 So liege ich am Morgen, vergangenen Reise-Momenten nachsinnend, in den ebenfalls hier existierenden heiĂźen Quellen, als die Wolken aufreiĂźen und zum Abschied doch noch einmal den Blick auf den (tatsächlich eher unspektakulären) Gipfel des sagenumwobenen Berges freigeben – tief durchatmen, natĂĽrlich alles wieder Zufall... ;-).

 Manches ist wild an Chinas „Westen“ (der ja eigentlich eher die Mitte ist), und wer hier reist sollte schon gewisse Nehmerqualitäten haben – wer aber trotz dieser Härten offen bleibt, der wird mehr als einmal inne halten, um sich zu fragen, ob alles was man er/sie sieht wirklich von dieser Welt ist – es ist sicher nicht aus der „unsrigen“.

Selbst wer solche Anwandlungen als „esoterisch“ oder „romantisierend“ abperlen lässt, dem wird anhand der Landschaft wohl wenig andere Beschreibungen bleiben, als atemberaubend. Von Lanzhou nach Chengdu: Eine Erlebnisreise in des Wortes besten Sinne!

  

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