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Im Land der Schmetterlingskinder
Ich habe ein Patenkind. Ich habe ein Patenkind in einem fernen Land, in einem fernen Land, in dem die Menschen glauben, sie seien die Nachfahren von
Schmetterlingen.
Ich sehe vor mir die bunten Trachten, mit denen sie auf die Felder ziehen, und höre singende Kinderstimmen durch das Tal schallen. Ich sehe die
Reisterassen, die sich als strahlend grüne Bänder um die Berge winden, und ich sehe Wasserbüffel mit mächtigen Hörnern langsamen Schrittes dahin ziehen. Ich sehe uralte Dörfer, die sich in die Landschaft
schmiegen, als seien die dunklen, hölzernen Häuser irgendwann aus dem Boden gewachsen.
Die wunderbar anzusehenden Reis-Terrassen sind wirklich wunderbar, denn sie sind Felder und Fisch-Teiche in einem. Ein kleiner Junge will uns drei
kleine Fische an einer Schnur schenken, die er im Feld gefangen hat. Fische sind hier wertvoll, aber noch wertvoller sind Enten, so wertvoll, dass sie jeden Tag sorgsam gehütet in kleinen Körben vom Dorf in die
Felder getragen werden, damit sie dort schwimmen und fressen können – und abends wieder zurück.
Und noch einmal höre ich Kinder zum Abschied singen, doch dieses Mal mischt sich hinein das Weinen eines deutsch-französischen Mädchens in unserer
Gruppe, weinend, weil es all seine neuen Freundinnen hier nicht verlassen will – nach nur einem Tag in einem Dorf. Ja, die Menschen in diesem Land können einem wirklich schnell das Herz aufschließen.
Und dann sehe ich plötzlich vor mir jenes zitternd-verängstigte Kind, von dem auch unsere französische Betreuerin zum ersten Mal erfährt. Ein Kind,
das nie auch nur in die Nähe einer Patenschaft gekommen war, da es nie jemand von „Couleurs de Chine“ gesehen hatte – und nur wenige Menschen überhaupt. Ein Kind, das behindert geboren, wohl über Jahre
hinweg niemals seine Hütte verlassen hat. Ich denke an die pechschwarzen Nächte ohne Lampen, die ich hier erlebt habe, und höre das Rascheln und Schaben von Tieren in der Nacht auf dem Speicher. Vielerorts unter
vergleichbaren Bedingungen in China wäre dieses Mädchen schon lange tot, die Miao bringen das nicht über sich – aber ...?
Ich erinnere mich, warum ich hier eine Patenschaft habe, erinnere mich, dass dieses scheinbare Paradies mit seinen freundlichen, lebensfrohen Menschen
eine der ärmsten Gegenden Chinas ist. Die Armut macht das Leben klar, einfach und sinnvoll, was uns aus Shanghai kommend immer wieder tief, manchmal eben auch zu Tränen rührt. Aber Armut stellt einen dann auch
immer wieder vor Fragen, die man normaler- weise nicht einmal zu denken wagt. Das ist bedrückend, verwirrend – auch jetzt noch, Wochen später.
Das Land der Schmetterlingskinder liegt in Wirklichkeit gar nicht so fern, in der Provinz Guangxi. 300km westlich vom touristisch glitzernden Guilin,
300km über kleine Straßen, Schotterwege und schließlich auf dem Fluss im kleinen Holzkahn. Die französische Organisation „Couleurs de Chine“ betreibt hier ein einfaches Gästehaus, von dem aus Spender aus
ganz China und Europa erfahren können, wo ihr Geld hingeht.
Die Erkundungen und Besuche erfolgen wandernd über ausgetretene und ausgewaschene Pfade. In den Dörfern gibt es keine Telefone, so kommen wir meist
unangekündigt an. Dann erst schwärmen Boten aus, um die Verwandten von den Feldern zu holen, auch unsere Patenkinder, denn es sind Ferien, und in den Ferien müssen natürlich auch die Kinder auf den Feldern
helfen.
Gleichzeitig suchen andere Dorfbewohner Unterkünfte für uns. Die Miao haben eine Tradition offener Türen für Gäste, Hotels gibt es nicht. So sind unsere
Lager in diesen Tagen so einfach wie das Leben hier.
Doch natĂĽrlich ist der Besuch ein besonderer Anlass. So gibt es Huhn und Fisch, wo sonst Klebreis den Alltag bestimmt. Man sitzt zusammen auf kleinen
Holzschemeln. Das Festmahl wird von uns gut, aber nicht übermäßig bezahlt, so kann eventuell etwas Reis zugekauft werden, wenn der Ertrag der Felder mal wieder nicht reicht, aber der Rahmen bleibt gewahrt: Mein
chinesischer Lehrer-Kollege hier an der Schule verdient 150 RMB im Monat.
Es gäbe so viel zu erzählen, von Wanderpriestern und Geisterritualen, von den schönen geflochtenen Korbscheiden für die Reis-Sicheln. Von hölzernen
Dreschmaschinen und kunstvoll verschränkten Reisstrohgarben. Da wären natürlich noch die vor dem Hintergrund all der Armut unglaublichen und sorgsamst über Generationen gehüteten Silberkronen und Ketten der
Mädchen, die stolzen, pagodenartigen Trommel-Türme, die jeder Clan für sich errichtet und die rätselhaften Wind-Regen-Brücken der nahe lebenden Dong-Minderheit: ausladende Versammlungshallen errichtet auf
urigen, bruchsteinernen BrĂĽcken.
All das gäbe es noch zu erzählen, Eindrücke aus nur wenigen Tagen in einer sehr fremden, und dadurch sehr fernen Welt, und doch Eindrücke hier aus
China. Aber das Eigentliche, was hier passiert, kann man nicht erzählen, man muss es erleben. Ich bin froh, dass ich die Gelegenheit dazu hatte, die Gelegenheit, einmal ins Land der Schmetterlingskinder zu kommen,
ins Land meines Patenkindes.
Eure Sandra
Infos zum Projekt gibt es unter http://www.couleursdechine.org/
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